L'Europe Galante,
Ballet, Mis En Musique Par Monsieur **********.
A Paris, Chez Christophe Ballard, seul Imprimeur du Roy pour la Musique,
rüe Saint Jean de Beauvais, au Mont-Parnasse.
M. DC. XCVII.
Avec Privilege de Sa Majesté.
Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "André Campra (1697)", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/andre-campra-1697/
Schlagworte: Libretto; Liebe; Opern-Ballett; Zwietracht;
Fundort: BSB / 4 Mus.pr. 93.2008
A) Kurzbiographie | B) Beschreibung der Quelle | C) Europabegriff und -vorstellung bei Campra |
André Campra wurde am 3. Dezember 1660 in Aix-en-Provence als Sohn des aus Piemont stammenden Arztes Jean-François Campra und seiner Frau Louise Fabry geboren. Seine erste musikalische Ausbildung erhielt er als Chorknabe an der Kathedrale "Saint-Sauveur", wo er 1678 zum Priester geweiht wurde und drei Jahre später für kurze Zeit eine Stelle als Kaplan antrat. Noch im gleichen Jahr wechselte er als Kapellmeister nach Arles, wo 1682 anlässlich der Geburt des Herzogs von Burgund seine erste Oper entstand, die heute als verloren gilt. Campra wechselte 1683 an die Kirche "Saint-Etienne" in Toulouse, leitete die Sängerschule, übernahm die Aufsicht über das gesamte Musikwesen des Languedocs und vertrat die zu dieser Zeit entstehenden Reformbestrebungen im Bereich der Kirchenmusik. Am 3. Juli 1694 wurde er mit Unterstützung des Abtes Lagrange-Trianon nach Paris berufen und zum Leiter der Sängerschule von "Notre-Dame" ernannt, ohne dass er sich in einem musikalischen Auswahlverfahren um die Stellung bewerben musste.
Da der Versailler Hof in den Neunziger Jahren stark vom moralischen Denken Madame de Maintenons, der morganatischen Ehefrau Ludwigs XIV., geprägt war, fasste Campra den Beschluss, lediglich seine sakralen Kompositionen unter eigenem Namen zu publizieren, während er profane Werke entweder anonym oder unter dem Namen seines jüngeren Bruders Joseph herausgeben ließ. Nach dem großen Erfolg seines ersten Opern-Balletts "L'Europe Galante" (1697) betätigte er sich für fast vierzig Jahre als Komponist am Jesuitenkolleg "Louis-le-Grand" (1698-1737), dirigierte an der Pariser Oper und nahm Auftragswerke für den Adel an. Große Erfolge feierte er um die Jahrhundertwende mit den lyrischen Tragödien "Hésione" (1700) und "Tancrède" (1702), die vielfach an etablierten Institutionen wie der "Opéra-Comique" oder "Comédie Italienne" parodiert wurden, bevor er sich 1708 mit seinem ersten Kantatenbuch "Cantates françoises" wieder auf die geistliche Musik konzentrierte.
Nach dem Tod Ludwigs XIV. sicherte sich Campra als Schützling des Regenten Philippe d'Orléans einen leitenden Posten in der "Chapelle Royale" und trat 1722 als musikalischer Direktor in die Dienste des Fürsten von Conti. In der Spätphase seiner Karriere entstanden neben einem Requiem sowie diversen Kantaten-, Motteten- und Psalmenbüchern nur noch wenige weltliche Kompositionen wie die lyrische Oper "Achille et Déidamie" (1735). Mit fast achtzig Jahren trat der Musiker von allen Ämtern zurück und lebte fortan in recht ärmlichen Verhältnissen in Versailles, wo er am 29. Juni 1744 starb.
Nach Jean-Baptiste Lully und Jean-Philippe Rameau gilt André Campra, der in erster Linie durch die Schaffung und Etablierung eines neuartigen Genres ("l'opéra-ballet") in die Musikgeschichte eingegangen ist, als wichtigster Bühnenkomponist des "Ancien Régime". Seine vier Opern-Ballette (1697, 1699, 1710, 1718), welche die Wende von der dramatisch-barocken Staatsmusik Lullyscher Prägung zum gelockerten, mit italienischen Stilelementen (Stimmumfang und -kolorit, Da-capo-Formen etc.) angereicherten Musikgeschmack der "Régence" sowie des Rokoko markieren, gehörten während der gesamten ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den populärsten Repertoirestücken europäischer Hoftheater.
Literatur:
- Dictionnaire de Biographie Française, T. 7, Paris 1954, Sp. 1004-1005.
- Anthony, James Raymond: The opera-ballets of André Campra: A study of the first period of French opera-ballet. 2 vols. Los Angeles 1964.
- Barthélemy, Maurice: André Campra: sa vie et son oeuvre, 1660-1744. Paris 1957. (= La vie musicale en France sous les rois Bourbons; 4)
- Ministère des Affaires Etrangères: L'espace culturel: André Campra 1660-1744. [http://www.France.diplomatie.fr/culture/France/musique/composit/campra.html]
"L'Europe Galante" wurde im Jahr 1697 anonym herausgegeben und begründete ein neues musikalisches Genre. Obwohl Campras Werk bereits einen relativ großen Bekanntheitsgrad besitzt, wird es im Rahmen des Quellenprojektes vorgestellt, da es in der Fachliteratur meist nur unter musikhistorischen Aspekten behandelt und häufig sogar von Überarbeitungen oder Übersetzungen ausgegangen wird. Die vorliegende Textautopsie beruht dahingegen auf einer Originalausgabe, die sich im Bestand der "Bibliothèque Municipale de Toulouse" befindet und 1992 durch eine Initiative der in Béziers ansässigen "Société de Musicologie de Languedoc" in unveränderter Form reproduziert wurde.
Die Quelle besteht aus einer vorgeschalteten Werbeanzeige der Pariser Musikalienhandlung Foucault, einem Titelblatt, das den Inventarstempel der "Grande Bibliothèque de Toulouse" trägt, der Partitur des Opern-Balletts und einem nachgestellten Auszug aus dem königlichen Druckprivileg. Die Partitur (einschließlich des Librettos von Antoine Houdar de la Motte) umfasst knapp 280 Notenblätter und beinhaltet neben dem Prolog vier Akte bzw. Auftritte ("Entrées"), die jeweils in sich geschlossene Handlungsabläufe zeigen, sowie ein Supplement zum ersten Akt. Der Prolog schildert genreüblich den Anstoß der Geschichte und zeigt den Streit zwischen der Liebe, die durch Venus - und indirekt durch Amor - vertreten wird, und ihrer Kontrahentin, der personifizierten Zwietracht ("La Discorde") um die Vorherrschaft in Europa. Beide zeigen sich überzeugt davon, dass ihre jeweilige Macht und Einflussnahme die der anderen übertrifft. Die anschließenden Akte, die in insgesamt 18 Szenen (1/5, 2/3, 3/5, 4/5) unterteilt sind, sollen anhand von vier voneinander unabhängigen Beispielen darlegen, welcher der beiden Widersacherinnen nun tatsächlich die wichtigste Stellung zukommt.
Der erste Auftritt findet in Frankreich statt und zeigt eine malerische Landschaft mit Weiler. Anhand der Dreiecksgeschichte zwischen Silvandre, seiner "alten" Liebe Doris und seiner "neuen" Flamme Cephise wird der ewige Kreislauf der Liebe und der mit ihr untrennbar verbundenen Wankelmütigkeit und Untreue thematisiert. Nach deren offenen Ausgang folgt der zweite Abschnitt, der auf einem öffentlichen Platz in Spanien spielt und zwei Kavaliere als Akteure vorsieht. Trotz der Gefahr von Abweisung und Kummer dreht sich deren Denken bereitwillig immer um das Thema der Liebe. Auch im dritten Entrée, für das als Schauplatz Italien gewählt wurde und das ein venezianisches Adelspaar auf einem Maskenball zeigt, beherrscht die Liebe und deren Gefährtin, die Eifersucht, unangefochten das Geschehen. Schließlich bildet der vierte und letzte Auftritt, in dem ein Serail in der Türkei als Spielort dient, auch keine Ausnahme. Der Stand des Sultans Zulimane zwischen der "alten" Favoritin Roxane und ihrer potentiellen Nachfolgerin Zaï(y)de birgt die gleiche Problematik wie der in Frankreich angesiedelte erste Akt. Die fünfte Szene dieses letzten Auftritts bringt außerdem noch einmal Venus und die Zwietracht auf die Bühne. Die Zwietracht muss dabei entsetzt zugeben, dass der Sieg ausschließlich der Liebe zusteht und zieht sich von der Welt zurück:
VENUS
"La Discorde à l'Amour cede enfin, la victoire,
Vous, jeux charmants, tendre plaisirs,
Volez de toutes parts pour servir ses desirs,
Allez accroître encor son empire & sa gloire."
C) Europabegriff und -vorstellung bei Campra
Der Begriff "Europe" findet sich im Libretto des ersten Opern-Balletts Campras ausschließlich im Prolog wieder. "Europa" scheint dabei für längere Zeit unter dem Einfluss von Hass und Zwietracht gestanden zu haben, denn Venus wird die Frage gestellt: "A quelle coin reculé du monde, L'Amour veut-il tenter des triomphes nouveaux?" Dieser Passus könnte auf die Lage der Kriegsteilnehmer (im Stück vertreten durch Frankreich, Spanien, Italien und die Türkei) des Pfälzischen Erbfolgekrieges (1688-1697) und des Fünften Türkenkrieges (1683-1699) verweisen, da sich beide Auseinandersetzungen zum Zeitpunkt der Komposition in ihrer Endphase befinden bzw. Friedensbedingungen ("Friede von Rijswijk") bereits verhandelt werden. Sollte diese Interpretation zutreffen, wäre die unmittelbare Zeitbezogenheit des Werks unbedingt zu beachten.
Während der langen Kriegsjahre war es die personifizierte Zwietracht, die das Denken und Handeln der Menschen bestimmte und so glaubt sie sich sicher, dass ihr dieser Einfluss auch künftig zukommen wird, insbesondere, da die Liebe aus "Europa" verbannt zu sein scheint:
"A mes sanglants Autels touts vient sacrifier,
Et ton fils se voit oublier;
Je l'ay du moins banny de l'Europe allarmée,
S'il ne l'est pas du monde entier."
Venus ist sich des sakrosankten Charakters der Liebe (im Krieg wie im Frieden) aber sicher und scheint über einige, auf dem Schauplatz "Europa" vorhergegangenen Veränderungen besser informiert zu sein. So widerspricht sie ihrer Gegenspielerin mit den Worten:
"Tu t'applaudis d'une fausse victoire,
L'Amour a dans l'Europe une nouvelle gloire;
Il recueille le fruit de tes noires fureurs,
Il regne au milieu de la guerre ;" …"L'Europe que tu crois attentive à ta voix,
Va chanter à tes yeux la douceur de ses loix,
Tu vas voir que des cœurs l'Amour seul est le maître."
Liebesszenen dienen der Protagonistin in allen vier Handlungsakten als Beweis für die siegreiche Rückkehr der Liebe nach "Europa", das durch die vier Schauplätze Frankreich, Spanien, Italien und Türkei vertreten wird. Geschlossenere Beschreibungen finden darüber hinaus sowohl aus geographischer, moralisch-sittlicher oder auch mythologischer Sicht nicht statt.
(rf)