Andreas Cless [1675]

Curiosa, nec non politica vagabundi per Europam, vulgo sic dicti, Rationis - Status, de praesenti tempore Nugae-Somnia.
Das ist: Des in der Europäischen Welt überall zu Hause sich einfindenden/ so genannten Ratio-Status, Wegen jetziger Zeit Läufften nachdenckliche/ und Politische träumende Schwätz=Gesichter. [Bd. 1]
Falso-Veronae [Nürnberg, Leonhard Loschge] An. 1675.

Zitierweise: Josef Köstlbauer: Quellenautopsie "Andreas Cless (1675)", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/andreas-cless-1675/

Schlagworte: Christenheit; Diskurs; Einigkeit; Flugschrift; Gleichgewicht; Ludwig XIV.; Mächtesystem; Osmanen; Staat; Staatsraison; Traumschrift; Türken;

Fundort: ÖNB / 36. C. 72

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung bei Cless

 

A) Kurzbiographie

Über den Autor der vorliegenden Quelle, Andreas Cless ist - trotz der Popularität seiner "Schwätz=Gesichter" - so gut wie nichts bekannt. Er scheint auch als Beiträger zu einer 1603/4 erschienenen Dissertationensammlung (Theorematum Metaphysicum Exercitationes Quatuordecim) auf, ansonsten konnten keine weiteren von ihm verfassten Werke identifiziert werden.

 

Literatur:

  • Jöcher, Christian Gottlieb: Allgemeines Gelehrten-Lexicon, 2. Ergänzungsband, Leipzig 1787, Sp. 372.

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B) Beschreibung der Quelle

Die vorliegende Quelle umfasst insgesamt fünf Teile oder Bände, die zwischen 1675 und 1677 in Nürnberg im Verlag Leonhard Loschge erschienen. Die auf dem Titelblatt angeführte Angabe Falso-Verona ist fingiert. In der für diese Analyse herangezogenen Wiener Ausgabe sind die vier eigentlichen Bände der "Schwätz=Gesichter" und der erste Band einer 1677/78 erschienen zweibändigen Erweiterung ("Die Andere Classe/ Des in der Europäischen Welt überall zu Hause sich einfindenden/ so genanten Ratio-Status") in einer Bindung versammelt. Der zweite Teil dieser Erweiterung fehlt im Wiener Exemplar. Die 1675 publizierten ersten beiden Bände haben 90 beziehungsweise 76 Seiten, der 1676 erschienene dritte Band umfasst 93 Seiten, der 1677 publizierte vierte Band hat 98 Seiten und der erste Band der Erweiterung 90 Seiten. Zwischen 1678 und 1680 wurde dann eine neue und stark erweiterte Edition der "Schwätz=Gesichter" veröffentlicht, die hier nicht berücksichtigt ist.
Den ersten Band ziert ein Frontispiz, zu dem am Bandende auch eine Beschreibung existiert. Die Darstellung gewährt dem Betrachter perspektivischen Einblick in ein Gemach, in dessen Zentrum ein von einem Baldachin überkröntes Staatsbett steht. Darin ruht eine schlafende dreiköpfige Figur, die als Ratio-Status Dormiens kenntlich gemacht ist. An der linken und rechten Seite des Lagers stehen zwei, dem Schlummernden zugewandte Frauenfiguren, die Schriftrollen hochhalten: Auf der linken steht zu lesen "Particular Briefe und kluger Leute Gutachten", auf der rechten "Zeitungen Advisen und Herr Omnis Geschwätz". Beide Frauenfiguren scheinen dem schlafenden Ratio-Status zuzuflüstern, Sprechblasen erklären, dass ihm die linke Dame "Veritates", also Wahrheiten eingibt, während die rechte "mendacia", Lügen, erzählt. Die Beschreibung sagt dazu: "Nicht dass mans glauben soll/ als ein wahres Gesetz/ Weil Lügen und das Wahr von ein zum andern führet." Die drei Häupter des Ratio-Status stehen für den Gelehrten, den Priester und den Soldaten: "Drey Köpffe seynd im Bett/ weil in der Welt drey Stände/ Gelehrt/ der Pfaff/ Soldat gleichfalls zu finden seyn." Am Fuß des Bettes steht ein runder Tisch, auf dem die Attribute dieser Stände zu sehen sind. Auf seiner linken Hälfte liegen Priesterrock und -Hut, rechts Rapier, Pistolen und Schwertgurt. In der Mitte des Tisches zwischen diesen Symbolen der kirchlichen und der militärischen Sphäre steht ein Stapel Bücher, der das ausgleichende Recht repräsentiert ("Dabey befindet sich das Recht/ gleich auf der Seiten/ die macht/ dass beydes sey gericht vom Raht zur That/ was dieser Mann vom Staat sein Tag verrichtet hat").
Der Inhaltsteil des ersten wie aller folgenden Bände weist keinerlei Gliederung in einzelne Kapitel auf, sondern ist ein von Anfang bis Ende durchgehender Text. Am Beginn von Band Eins stellt sich der Ratio-Status, alias "raison d' Estat", vor. Jenen Lesern, denen sein "in der ganzen Welt verhasster" Name noch unbekannt ist, empfiehlt er, "daß sie bey dem grossem Ludovico, jetzigem Könige in Franckreich/ sich in die Schule begeben/ und von ihm/ als der die eintzige Prosession hiervon machet/ auch seines gleichen in der Welt/ wegen subtiler Beybringung und Erklärung meines Thuns und Wesens/ schwerlich hat/ erlernen/ was einige längsten gewünschet/ nie gewusst zu haben."
Danach beginnt Ratio Staus von den Traumgesichten zu erzählen, die ihm kürzlich im Schlaf begegnet sind. Zuerst sieht er eine Zusammenkunft der zehn deutschen Reichskreise, die jeweils durch archetypische Figuren vertreten sind. Zwischen ihnen entfaltet sich eine Diskussion, in der die Vertreter eines gemeinsamen Vorgehens der deutschen Fürsten und die Proponenten der Wahrung von Partikularinteressen miteinander ringen. Dabei macht der Autor jene deutschen Fürsten für die Schwäche Deutschlands und des Reiches verantwortlich, die aus Eigennutz ein geeintes Vorgehen gegen Frankreich verhindern ("O Ihr Teutschen Fürsten/ entdecket Euch endlich der vorgezogenen Larven/ und schauet recht zu/ ob Ihr Eurer überallzugrossen freyheit unter den Flügeln des frommen Adlers nicht missbrauchet! der Lilien Geruch hat euch den Kopff eingenomme/ darum ist Euch die Gütigkeit des Adlers ein Eckel."). Als besondere Demütigung betrachtet Cless, dass Frankreich und Schweden infolge des Westfälischen Friedens Stützpunkte auf deutschem Boden unterhalten, sowie die gleich mehrmals genannte Verwüstung der Pfalz durch französische Truppen.
Das zweite Traumgesicht ist ein Streitgespräch zwischen Personen verschiedener europäischer Nationalitäten (Spanier, Franzose, Engländer, Schwede, Däne, Portugiese, Holländer), bei dem die holländisch-französischen Spannungen im Zentrum stehen. Bemerkenswert ist hier die traditionelle Darstellung von Nationalcharakteren: Der Spanier ist ansehnlicher und gravitätischer als alle anderen, der Franzose ist schmächtig, agil und nervös, der Engländer auf seinen ehrlichen Ruf bedacht.
Das dritte Traumgesicht des Ratio-Status zeigt einen zu Boden gestreckten Polen, der von einem Türken bedroht wird. Ein Perser und ein Moscoviter beobachten die Szene, zögern aber einzugreifen. Hier ist das Thema einerseits das Versagen der Christenheit den Polen im Kampf gegen den osmanischen Feind beizustehen, andererseits wieder die Eigeninteressen von Moscovitern und Persern, die lieber ihre Machtpositionen ausbauen (im Falle Russlands gegen die Schweden im Baltikum), als den Osmanen in den Rücken zu fallen.
Grundtenor aller dieser Traumgesichte ist die rücksichtslose Politik Frankreichs und die Schwäche der anderen europäischen beziehungsweise der deutschen Fürsten, die aus Eigennutz Frankreichs Kriege unterstützen und so das europäische Gleichgewicht ins Wanken bringen.
In diese Diskurse eingestreut sind zahlreiche gelehrte Zitate, vornehmlich lateinische und französische, vereinzelt auch griechische. Am Seitenrand ist jeweils die zugehörige Quelle vermerkt, unter anderem findet sich hier Thucydides, Erasmus, der Hl. Bernhard, Tacitus, Catull und natürlich die Bibel. Im Zusammenhang mit dem Französischen treten, damals durchaus verbreitete, Ressentiments des Autors zutage. Er sieht vor allem Latein als Sprache der Gelehrsamkeit durch das Eindringen der französischen Sprache in den deutschen Raum gefährdet: "Es ist ja/ leider! so weit gekommen/ daß nachdeme diese Frantzösische Sprache durch einigen unserer Landsleuten zu Hause gebracht worden/ die uhralte Lateinische/ welche sonsten als Königin über alle andere regiret/ weichen und verschwinden will/ da doch diese so manche schöne Ohrfeye gekostet."

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C) Europabegriff und -vorstellung bei Cless

Andreas Cless geht auf Europa als solches nicht ein, in seinem Werk steht die Schwäche des Reichs und die von ihm konstatierte Perfidie Frankreichs im Vordergrund. Einige Schlüsse auf hinter dem Text stehende Europavorstellungen können aber gezogen werden:
Der Autor trachtet ein sehr negatives und deutlich auf Frankreich gezieltes Bild vom Ratio-Status zu vermitteln. Der Begriff lässt sich nur unzulänglich mit dem eher neutralen "Staatsraison" wiedergeben, vielmehr meint der Autor damit ein am puren Eigennutz orientiertes politisches Handeln des Staates oder Fürsten. Die Assoziation zum Fürsten Machiavellis in diesem Zusammenhang ist nahe liegend und wohl auch zutreffend, aber der negative Charakter des Ratio-Status speist sich ebenso aus einer schon im frühen 17. Jahrhundert zu bemerkenden Abwertung der Begriffe des Politikers wie der politischen Sphäre überhaupt.
Wenn der Ratio-Status auf Ludwig den XIV. hinweist, um sein Wesen zu erklären, dann meint er eigentlich eine Perversion dieses Wesens. Der Autor verstärkt diese Impression noch durch eine sehr subtile Gegeneinandersetzung französischer Ranküne und deutscher Tugendhaftigkeit: "ich (...) bin dessen unfehlbarlich versichert/ daß/ ehe ich als ein Hurenkind in Teutschland versterben solte/ Vätter und Ehrenbeschützer hinter den himmelsteigenden Pyrenaäischen Gebürgen/ und aus den über Meer gelegenen tieffen Kupffer=Klüfften entspringen würden/ die ihnen nach Vermögen angelegen seyn liessen/ meine Reputation bey den Nachkömmlingen zu erhalten."
Gemildert wird die negative Konnotation des Begriffes aber doch nicht, denn die im Frontispiz gezeigte Dreieinigkeit von Priester, Soldat und Gelehrtem verweist auf eine ideale Politik, die sich durch die Balance dieser drei Sphären auszeichnet.
Im dritten Traumgesicht wird das Bild des unheilvollen französischen Ratio-Status mit einer christlich bestimmten Europakonzeption verknüpft. Angesichts des bedrohten Polen spricht der Autor von einem Verrat Ludwigs des XIV. an der Christenheit: "Welche eine grosse Freude hätte unser Aller=Christlichster Sohn am Römischen Stuhl zuwege bringen können/ wann er sein vorgeschütztes Vornehmen zu einem rechten Ende gebracht/ und hernach seine gantz Macht wider diesen Bluthund den Türcken gewaget? Seine Landbegierigkeit hat ihn jetzo in ein dergestalt verwirrtes Spiel eingewickelt/ daß er ohne grosse Schwächung seiner Macht schwerlich herauskommen dürffte."
Die Eindämmung der französischen Macht und die Bewahrung des Friedens erscheint demnach als Projekt von gesamteuropäischer Bedeutung. Die Aufgabe der christlichen Fürsten Europas ist es, die Feinde der Christenheit zu bekämpfen. Eine vom Ratio-Status diktierte Politik, welche die Balance des europäischen Machtgefüges gefährdet, bedroht auch die Christenheit.

(jk)

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