Anonym [1664] "Ermahnung"

Laehrma Trumbl/ Oder Ein Trewe Ermahnung an alle Christliche Mitglider deß Roem: und anderer Reiche in gantzen Europa.
Verfast Anno M.DC.LXIV. Durch B.V.S.R.Rh.M.S.G.V.Z.Z.K.
Gedruckt zu Wienn in Oesterreich/ bey Johann Jacob Kuerner. In verlegung Geoerg Lackners/ Buch= und Kunstfuehrern.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1664) Ermahnung", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1664-ermahnung/

Schlagworte: Aufruf; Christenheit; Einigkeit; Flugschrift; Körper; Krankheit; Türken;

Fundort: BSB / Res / 4 Eur. 369,38

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Bei der "Laerma Trumbl" handelt es sich um eine Flugschrift, die im Jahr 1664 ohne Angabe des Verfassers hergestellt wurde und zehn Seiten umfasst. Sie besteht aus einem Titelblatt, einer einseitigen Widmung an den in kaiserlichen Diensten stehenden Graf von Abensberg und Traun, sowie einem fortlaufenden Text. Die mit einfachen Mitteln hergestellte Flugschrift steht inhaltlich in einem deutlichen Kontext zum 4. Türkenkrieg (1663/64), in dessen Verlauf osmanische Truppen den größten Teil Ungarns besetzten und somit gefährlich nahe an die Residenzstadt Wien heranrückten. Durch das einleitende Zitat "Concordia res parvæ crescunt, Discordia maximæ dilabuntur." (Durch die Einigkeit können kleine Sachen groß und durch die Zwietracht die größten zunichte gemacht werden.) verweist der anonyme Autor auch sofort auf diese Gefahr und erklärt den Grund, warum der aktuelle Krieg für die kaiserlichen Truppen einen solch negativen Verlauf genommen hat. Die Christen Europas könnten dem osmanischen Erbfeind nämlich nur dann erfolgreich entgegentreten, wenn sie in Einigkeit und Treue zueinander stehen würden, doch gerade an diesen entscheidenden Eigenschaften mangele es ihnen erheblich. Schon bei Heroen wie Alexander dem Großen oder Julius Caesar habe sich gezeigt, dass mächtige Reichsgebilde ausschließlich dann entstehen und bestehen könnten, wenn sie auf Einigkeit und Treue basierten.
Auf dem Höhepunkt der antik-römischen Territorialausdehnung, als Europa (Okzident) und Asien/Afrika (Orient) von einer Hand regiert wurden, sei auch der Doppeladler - gleichermaßen Ost und West überblickend und beherrschend - als imperiales Machtsymbol entstanden, der aber nun zunehmend durch ein wucherndes Krebsgeschwür bedroht wird: "Und obwolen dieser Adler so hoch herumb geschwebet/ vil Jahr sicher und auffrecht gestanden/ ist doch endlich das andere Haupt/ nemblich daß Orientalische Reich durch Uneinigkeit unnd Abfall der Christglaubigen von den Machometisten nach und nach hinweck gefressen und zerstoert worden. Das andere Haupt stehet zwar noch/ aber der obbenente Tyrann der Tuerckische Kayser (welcher einer umb sich fressenten Kranckheit/ nemblich dem Krebsen/ billich kan verglichen werden) hat sich schon offt gesetzt auff das andere Haupt deß Occidentalischen oder Römischen Kayserthumbs/ an dero Vormauer Ungerlandt/ Crobaten/ und Sibenburgen/ umbstehend wie er den gantzen Leib/ die gesambte Christenheit nach und nach moege hinfressen und verzehren. Gewiß und war ist es/ dass wann der Krebs diese schaedliche Kranckheit an einem Leib ansetzt/ nit leichtlich kann abgetriben und curiert werden/ zuvorderest/ wann er bey dem Kopf anfangt/ und derselb innerlich von den ublen Daempffen der Gall eingenommen wirdt/ so ist ein grosse Gefahr bey dem gantzen Leib. [...] Wann der Kopf uebel auff ist/ so seynd alle Glider des Leibs kranck."
Trotz der jahrhundertealten Auseinandersetzung habe die europäische Christenheit bis zur jetzigen Situation nicht begriffen, dass beim weiteren Vormarsch der Glaubensfeinde alle Christen in ihrer Existenz bedroht wären, auch wenn sie keine unmittelbaren Auswirkungen erwarteten. Um diese Gefahr deutlich hervorzuheben, verwendet der Verfasser fast durchgehend die Metapher vom Körper "Europas", die auf eine lange Deutungstradition (siehe "Andrés de Laguna 1543"; Quellen/16. Jahrhundert) zurückgeht. Es sei an der Zeit, die innere Zwietracht und den Konfessionsstreit, die er als verantwortliche Faktoren für den geschwächten Zustand "Europas" ausmacht, endlich beizulegen, um mit maximaler Stärke gegen die "tuerckische Krankheit" vorzugehen. Rasches Handeln sei unumgänglich, da die Krankheit den Körper "Europas" bereits infiziert und in einem gefährlichen Ausmaß befallen habe: "Das Haupt dises Leibs leydet allbereit sehr/ die innerlichen Zuestaende der Gallen/ so auß der Uneinigkeit der Religionen herspringen/ steigen ueber sich/ machen dasselbe sehr kranck und schwach; Der wilde Krebs der Tuerck ergreifft bey sollicher beschaffenheit seinem alten Brauch nach den Leib bey dem Kopff/ setzt sich oben auff [...]/ davon er sich nit lassen will/ biß er das Haupt Ungerlandt/ und Oesterreich gantz hinweck gefressen hat!"
Die nun unmittelbar bedrohte Stadt Wien steht in diesem Zusammenhang im Zentrum seiner Überlegungen, da ein (Be-)Fall Wiens für den "europäischen" Adlerkopf das gleiche bedeuten würde, wie der Fall Konstantinopels für das "orientalische" Haupt des Wappentiers, was in letzter Konsequenz den Niedergang des gesamten christlichen "Europas" nach sich ziehen würde. Der Autor schließt daher seine Ausführungen mit dem dringenden Appell "Seyet ihr doch alle Christen [!]" und der nochmaligen Warnung, dass kein Körperglied ohne den Kopf zu überleben vermag.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

"Europa" erscheint in der bearbeiteten Quelle als gemeinsamer Hort der Christenheit. Um diesen Bedeutungsgegenstand nachhaltig zu visualisieren, bedient sich der Autor der tradierten Körpermetapher, die ihre Hochzeit zwar im 16. Jahrhundert hatte, doch auch im 17. Jahrhundert immer wieder verwendet wurde (vgl. beispielsweise Johann Albert Fabricius 1678 und Anonym [1689] "Fama"). Im Gegensatz zur traditionellen Imagination besitzt "Europa" in der "Laerma Trumbl" aber kein Geschlecht, da es der Autor an keiner Stelle der Schrift als männlich oder weiblich bezeichnet. Auch die Beschreibung der einzelnen Glieder stimmt nicht mit der überlieferten Darstellungsweise überein: "Günstigster Leser/ wir haben nun mehr ein krancken Leib/ nemblich die gantze Christenheit/ welche annoch von Siben HauptGlidern bestehet: Erstlich von denen Ungarischen gesambten Provinzen. 2. Und allen Kayserlichen Erbländern/ welche billich der Kopff können genennt werden/ weilen es der vorderiste Theil ist/ unnd darin auch das Haupt der Christenheit residiert. 3. So ist das Roemische Reich/ und liebe Teutschland jederzeit einer Eysernen Brust verglichen worden/ welches auch noch deme gebuehret. 4. Damit dieser Leib mit allen Glidern besetzt werde/ kan Waelschland die rechte: und Pohlen die linke Handt genennet werden. Fuenfftens/ der rechte Fueß/ als eusseriste Thail in Europa, Franckreich/ und Spanien. 6. Der lincke Fueß Schweden und Dennemarck. 7. Der Rucken oder Hintertheil/ Engellandt/ Schott= und Irrlandt."
Der Kopf "Europas" liegt gemäß dieser nachlässig wirkenden und auf die aktuelle Lage zugeschnittenen Konzeption nicht gen Westen, sondern ist um 180° gen Osten gedreht. Er endet beim Meer "Hellespontum", welches den europäischen Körper vom bereits gefallenen Orient/"Asiam" trennt. Daher sei die aus Asien auf Europa übergreifende Krankheit, der "türckische Krebs", auch besonders gefährlich, da er nicht irgendein Glied des Körpers infiziert, sondern sofort auf den Kopf übergegriffen habe, der auch die fundamentale Lebensader aller anderen Körperteile in sich birgt. Die Infektion setzte bereits mit dem Fall Konstantinopels ein, was impliziert, dass der Zeitraum zwischen 1453 und 1664 als eine in unregelmäßigen Schüben verlaufende Krankengeschichte des europäischen Leibes gelesen werden muss. Erleichtert wurden sowohl die Infektion als auch die Ausbreitung der Krankheit durch die "innere" Schwächung "Europas". Die einzelnen Körperglieder agierten nicht miteinander, sondern belauerten sich voller Zwietracht, was dem Krebsgeschwür seinen Weg immer wieder erleichtere. Deshalb fragt der Urheber des Textes die einzelnen Glieder wie Italien oder Polen auch direkt, wie sie denn zu überleben gedenken, wenn der Kopf erst einmal vom Krebs zerstört ("wann nemblich der Kopff todt ist/ muessen alle Glieder sterben") worden sei. Inständig bittet er deshalb alle Körperteile, einig gegen die langwierige Krankheit vorzugehen ("Ihr koendt mit ewrem Saebl die Schaidl des Kopffs Sibenbuergen am allerleichtisten erraichen/ den fressenden Krebsen mit ewrem Schermessern hinweck butzen/ und den Kopff sauber halten") und stellt ihnen im Anschluss sogar in Aussicht, dass ein gemeinsam errungener Erfolg keinen Schlusspunkt darstellen und man in einem zweiten Schritt auch nicht vor den Grenzen "Europas" halt ("den andern Kopff dem Adler wiederum anfuegen") machen müsse.

(rf)

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