Anonym [1672] "Considerationes"

Considerationes Politicae Super Praesenti Statu Europae Sive Dissertatio De causis imminentium Bellorum Et inde natis animorum motibus,
Ex Italico sermone in Latinum versa.
E Leutheropoli.
Sub initium anni CIC[invert.] DC. LXXII.
edita

Cic. Libr. I. Offic. c. XI.
Cum sint duo genera decertandi: unum per disceptationem, alterum per vim: cumque illud proprium sit hominis, hoc belluarum: confugiendum est ad posterius, si uti non licet superiore.

Terent.
Omnia prius consilio, quam armis sapientem experiri decet.


Politische Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand Europae.
Oder Ein Bedencken.
Von den Ursachen der uns ob dem Halß schwebenden Kriegen/ Und dannenhero entsprungenen Gemüths=Bewegungen.

Cic. Libr. I. Offic. c. XI.
Alldieweiln zweyerley Arten mit einander zu streiten sind: die eine durch einen Wort=Streit/ die andere aber durch Gewalt: deren jenes dem Menschen/ dieses dem unvernünfftigen Thieren zustehet: so muß man zu dem letztern erst seine Zuflucht nehmen/ wenn man sich deß ersten nicht bedienen kan.

Terent.
Es gebühret einem verständigen Mann/ daß er alles zu vor mit gutem Rath angreiffe/ ehe er zu den Waffen schreite.

Franckfurt/
Bey Wilhelm Serlin/ 1672

 

Zitierweise: Josef Köstlbauer: Quellenautopsie "Anonym (1672) Considerationes", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1672-considerationes/

Schlagworte: Christenheit; Einheit; Europaplan; Frankreich; Frieden; Holländischer Krieg; Krieg; Vereinigte Niederlande; Weltteil;

Fundort: ÖNB / 33.H.105

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Die vorliegende, 58 Seiten umfassende anonyme Quelle erschien im Jahr 1672 in Frankfurt im Verlag Wilhelm Serlin. Es handelt sich um eine lateinisch-deutsche Abhandlung über Hintergründe und potentielle Auswirkungen des sich abzeichnenden französischen "Rachekrieges" gegen die Vereinigten Niederlande (Französisch-Holländischer Krieg 1672-1678).
Das Werk ist vom Titelblatt bis zur letzten Zeile zweisprachig, wobei die Buchseiten in zwei Spalten geteilt sind und rechts die lateinische, links die deutsche Fassung zu lesen ist. Die lateinische Titelangabe enthält die Information, dass es sich hier um eine Übersetzung aus dem Italienischen handelt. Dies konnte nicht verifiziert werden, aber einige nur in der deutschen Einleitung enthaltene Nummerierungsfehler legen die Vermutung nahe, dass die lateinische Fassung die Vorlage für die deutsche bildete. Auffällig sind die gute Druckqualität und die sorgfältige Parallelführung des lateinischen und deutschen Textes. Ansonsten ist die Aufmachung der Quelle schlicht, abgesehen von einem schön ausgeführten Frontispiz und einer Ornament-Leiste mit floralem Motiv auf der ersten Seite gibt es keine Illustrationen.
Die in dem unsignierten Frontispiz dargestellte Szene ist schwer zu deuten. Sie zeigt Merkur (als Mercurius Gallo-Belgicus kenntlich gemacht) und eine nicht eindeutig zu identifizierende Frauenfigur in einer bewaldeten Landschaft. Die Dame sitzt mit entblößten Brüsten vor einem antiken Sockel und hält mit beiden Händen ein Schild, auf dem der lateinische Titel des vorliegenden Werkes zu lesen ist. Merkur schwebt hinter ihr und zieht ihr mit leichter Hand eine Maske vom Gesicht, während sie sich erstaunt, mit weit geöffneten Augen, umblickt. Die Maske könnte auf Melpomene (Muse der Tragödie) oder Thalia (Muse der Komödie) hindeuten, der Inhalt der Quelle lässt jedoch beide Interpretationen als unwahrscheinlich erscheinen. Möglich wäre eine Deutung der Frauenfigur als Allegorie auf die Wahrheit, die durch die Nachrichten des Götterboten enthüllt wird (Maske). Da keine vergleichbaren Darstellungen gefunden werden konnten, muss die Deutung dieser Darstellung offen bleiben.
Die auf der Titelseite widergegebenen Zitate von Cicero und Terenz, die maßvolles Handeln als Alternative zu gewaltsamen Vorgehen loben, weisen bereits auf die inhaltliche Zielrichtung dieses Werkes. Der anonyme Autor fürchtet um den Frieden in Europa und versucht Sinnlosigkeit und negative Folgen eines Krieges darzustellen. Der historische Hintergrund dieser Quelle ist der drohende Angriff Frankreichs auf die Vereinigten Niederlande, der dann 1672 auch tatsächlich erfolgen sollte.
Der Autor stützt seinen Friedensappell auf eine präzise Analyse der politischen Situation und der Hintergründe und Motive, welche die Politik der europäischen Reiche bestimmten. Daran schließt eine Bestandsaufnahme an, die sowohl die Kriegsrüstung von Franzosen und Niederländern in Betracht zieht, als auch Entwicklungen innerhalb der europäischen Bündnissysteme. Als treibendes Motiv der französischen Kriegsvorbereitungen sieht der Autor die Ausschaltung der Vereinigten Niederlande in Vorbereitung einer Besetzung der spanischen Niederlande. Denn im Devolutionskrieg von 1667/68 hatte ein rasch geschlossenes Bündnis der Vereinigten Niederlande, Englands und Schwedens einen ersten Versuch, die spanischen Niederlande zu erobern, scheitern lassen. Aber es werden auch Motive außerhalb der politischen Sphäre angeführt, z. B. Ruhmsucht und Ehrgeiz von Ludwig XIV. und der angeblich unruhige Charakter des französischen Volkes: "Ein[z]ig und allein der König in Frankreich hielte jedermans Gemüth im Zweiffel; als welcher ein großmüthiger über die massen Rhumsüchtiger/ und/ wegen seines blühenden Königreichs/ mächtiger Herr/ zu deme auch mit Volck/ Waffen/ Pferden/ Schiffen/ und/ woran am meisten gelegen/ mit Geld sehr wol versehen seye: Die Inwohner wären unruhige Köpffe/ und wo man ihnen außwärtig nichts zu schaffen machte/ so fiengen sie daheim unruhige Händel an: Uber diß/ so müste man das Land von dergleichen bösen Buben/ deren es allzeit in grossen Städten einen Uberfluß zu haben pflegt/ lären; dann gleich wie der Menschen Leiber durch Arzneyen: also würden die Königreiche durch den Krieg von bösen Leuthen gereiniget."
Seine (schwachen) Friedenshoffnungen sieht der Autor vor allem in der allgemeinen Erschöpfung der europäischen Mächte begründet, die zögern möchten, sich den Unsicherheiten eines neuerlichen Krieges auszusetzen ("so gar hat das wanckelbare Glück alles zu verdrehen und unter einander zu mischen begonnen/ daß an einem Ort der Könige Majestät/ an einem anderen der Völcker Freyheit zweifelhafftig gemacht wurde/ und es das Ansehen hatte/ als wollte alles drunter und drüber gehen.").
In seinem abschließenden Appell ("Ermahnung zu den Friedens=Mitteln") stellt der Verfasser schließlich den Erhalt des Friedens als eigentliche Aufgabe von Fürsten und Regierungen dar. Und nur durch das entschlossene Eintreten für den Frieden – wobei hier implizit auch militärische Drohung nicht ausgeschlossen wird – kann Stabilität und Wohlstand in den europäischen Reichen garantiert werden: "Derowegen sollten billich alle/ welche für den Frieden und das gemeine Wesen Sorge tragen/ ehe das Ubel weiter umb sich greiffe/ ernstlich auff eine Verbesserung bedacht seyn/ und zeitlich ins Mittel tretten. Denn dieses ist biß dahero für den richtigsten und sichersten Weg gehalten worden/ eine Gleichheit zu halten/ anderer auffsteigende Macht zurück zu halten und nicht zuzulasse/ daß der Uberwinder deß überwundenen Haab und Guth an sich ziehe/ damit er nicht/ wann er einen nach dem anderen überwunden/ allen ins gesambt über den Kopf wachsen möge."

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Der anonyme Verfasser enthüllt in dieser Quelle eine Vorstellung von Europa als christliche Staaten- und vor allem Friedensgemeinschaft, die er durch Krieg beziehungsweise Ehrgeiz und Ruhmsucht einzelner Fürsten bedroht sieht.
In den Kapiteln 46 und 47 findet das Bild von Europa als einer Gemeinschaft Ausdruck in einem antiken Gleichnis, das hier auf den französisch-holländischen Konflikt umgemünzt wird. In diesem Gleichnis rebellieren die Glieder des menschlichen Leibes gegen den Magen, dem sie ständig Nahrung verschaffen, der aber seinerseits nichts für den Körper zu tun scheint. Als Konsequenz leidet der Leib, beziehungsweise alle seine Glieder, unter den Folgen des Hungers und so wird die Bedeutung des Magens klar und dass jeder Körperteil die Existenz des anderen bedingt. Genauso interpretiert der Verfasser das Verhältnis der einzelnen europäischen Reiche: Sobald ein Reich gegen andere vorgeht – so wie Frankreich gegen die Vereinigten Niederlande - leidet der gesamte europäische Leib.
Im letzten und fünfzigsten Kapitel skizziert der Autor dann eine politische Vision, die dieser Idee der Zusammengehörigkeit der christlichen Reiche Europas Rechnung trägt. Es handelt sich dabei um einen auf Heinrich IV. von Frankreich, Großvater Ludwigs des XIV. zurückgehenden Europaplan. Der Autor entwirft vor dem Leser das Bild einer allumfassenden Republik, eines Bundes aller christlichen Reiche ("... daß die gantze Christenheit gleichsam als eine eintzige Republic zusamen trette/ welches ob es wol vielen einer Platonischen Republic nicht ungleich zu sein beduncken möchte."), der über ein unabhängiges Schlichtungsgremium verfügt, dem sich die Fürsten freiwillig unterwerfen und das als höchste Instanz in politischen Konflikten Entscheidungen fällt und so den Frieden bewahrt. So könnten die Schwachen vor der Macht der Starken geschützt und den Menschen die Verheerungen der Kriege erspart werden (" ... daß der Potentaten und Republicquen offentliche Strittigkeiten wie auch die jetzo aufgebrochene bürgerliche Kriege/ an eine allgemeine Versamblung in ganz Europa gebracht würden/ wann nur ein jeder mit seinem Recht vergnüget seyn/ und seine Begierden beherrschen wollte.").
Es wird auch deutlich, dass der Verfasser Christenheit und Europa im Wesentlichen gleichsetzt. Denn die durch obiges Friedensprojekt frei werdenden Kräfte empfiehlt er im Kampf gegen äußere Feinde einzusetzen: "Das Königreich Polen/ welches gleichsam eine Vormauer der Christenheit ist/ hat Hülffe vonnöthen: daselbst solle man die Gräntzen der Christenheit erweitern: Hohe Gemüther lassen sich in den engen Schranken Europae nicht einschließen: man sol den Seeräubern deß Mittelländischen Meeres den Kopff bieten: dem Türcken und Taffileta ein Gebiß einlegen/ daß sie mit ihren Landen zu frieden seyen/ und die Angräntzende mit Krieg zu plagen nicht begehren."
Weiters schlägt der Autor vor, den europäischen Menschenüberschuss durch die Kolonisation afrikanischer und amerikanischer Länder abzubauen: "Wie weil Inseln/ wie viel über die massen fruchtbare Länder in Africa und America/ und anmuthigste Gegenden in den Australischen Landen seyn noch lär und unbewohnet/ welche die überflüssige oder schädliche Menge unserer Inwohner/ wie sonst im Krieg zu geschehen pflegt/ auffnehmen könten." Eroberung und Kolonisation auf fremden Kontinenten sollen so den Frieden in Europa bewahren helfen ("Daselbst würde Ehre/ nutzen und Landes genug zu erholen seyn/ wer Lust zum Krieg hat: wann nur der Friede in Europa ungekräncket/ und unzerrüttet bleiben möchte.").

(jk)

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