Der Verkleidete Goetter=Both/ Mercurius,
Welcher durch Europa wandernd/ einige wichtige Discoursen/ Muthmassungen und Meynungen/ so bey denen Teutschen/ als Benachbarten dieses Welt=Theils begriffenen/ und in jetzigem Krieg mit interessirenden Höffen und Staenden/ unter vornehmen und geringen Standes=Personen vernommen/ warhafftig der Welt zum Nachricht entdecket/ und verlaesset.
[s. l.] Gedruckt im 1674sten Christ=Jahr.
Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1674) Goetter=Both", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1674-goetterboth/
Schlagworte: Jahresbericht; Nachrichten; Reisebericht; Relationen; Weltteil;
Fundort: BSB / Res / 4 Eur. 372,49,1
A) Kurzbiographie | B) Beschreibung der Quelle | C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers |
[Anonymer Verfasser]
Der "Verkleidete Goetter=Both" entpuppt sich als eine Nachrichtensammlung, die in etwa das Kalenderjahr 1674 abdeckt. Er umfasst neben dem Titelblatt ein vorangestelltes Frontispiz, ein Umschlagblatt mit einem lateinischen Sinnspruch ("Censoribus liceat discerpere, & partes inventos spargere, nisi satis habeant carpsisse. Fidem do, non plus bilis mihi inde oboriturum, quam si videam vestem flagellari ad excutiendum pulverem."), ein Vorwort an den Leser sowie den eigentlichen Nachrichtenteil, der in unnummerierte Abschnitte (fast durchgängig als "Relation" bezeichnet) unterteilt ist.
Das Frontispiz zeigt den Götterboten in zweifacher Form. Auf der einen Seite wird er in traditioneller Weise als eine vom Himmel einschwebende Gestalt mit Stab und Fußflügeln gezeigt, während er auf der anderen Seite in der Verkleidung eines Boten/Postillions auf einem galoppierenden Pferd im Bildvordergrund zu sehen ist. Als ein interessantes Detail erweist sich die gänzlich zeitgenössische Aufmachung des fliegenden Mercurius (lat. für "Merkur" bzw. die ursprünglich griech. Bezeichnung "Hermes"), der mit Allongeperücke, Spitzenschleife, Volants und Rheingrafenhose bekleidet ist und dem Leser eine Schriftrolle mit dem Hinweis "Narrata. Affero. Offero. Refero." entgegenhält. Auch in seiner Rolle als Bote verweist Mercurius auf ein aufgerolltes Blatt Papier, dessen kaum leserlich gestochene Inschrift wohl "Adio Hol=land" heißen soll. Ein zweites Geschöpf, das vermutlich Göttervater Jupiter in Form eines Adlers darstellt, beherrscht neben dem olympischen Kurier die Lüfte. Es hält Blitze und Flammen in seinem Greif und symbolisiert den Kriegszustand, in dem sich die im Hintergrund zu Land (Kavallerie) und Wasser (Kriegsschiffe) kämpfenden Menschen befinden. Die Zugehörigkeit der Truppen kann durch ein genaues Studium des Kupferstiches ermittelt werden, da die Flagge des einen Kavallerieregiments die bourbonischen Lilien und die Flagge des anderen (vermutlich) den doppelköpfigen Reichsadler zeigt. Die Staffage wird schließlich durch eine befestigte Stadt und Berge in der rechten Bildhälfte abgerundet.
Im vierseitigen Vorwort ("An dem Großguenstig=geneigten Leser") wird darauf hingewiesen, dass Mercurius genau das zu referieren gedenkt, was er auf der einjährigen, irdischen Reise vernommen hat. Trotz seiner raschen Veröffentlichung befürchtet der Autor aber, dass einige Berichte schon nicht mehr aktuell sein könnten, da der "Potentaten Interesse sich augenblicklichs [draehet]/ und dem Wind [folget]/ wie ein Wetterhahn." Das Vorwort wird fortlaufend durch Zitate (Cicero, Seneca u. a.) ergänzt, die der Verfasser in einen Fußnotenapparat gestellt hat und seine klassische Bildung verraten.
Der Nachrichtenteil beginnt mit einer Versicherung, die der Leser bereits aus dem Vorwort kennt: "Mercurius/ wurde mit Eingang dieses 1674sten Jahrs vom großen Gott Jove [Jupiter; Anm. d. Verf.]/ mit Bewilligung der gantzen Götter=Zunfft in die Welt versandt/ umb daselbst durch gantz Europa fleissig und treulich an alle und jeder Potentaten Hoefe/ und in die beruehmstesten grossen Staedte/ alles und jeden passirenden Neuen/ Muthmassungen/ Meynungen/ und Discoursen dieses Welt=Theils gefaerlich vermischten Krieges wegen fleissig und getreulich zu erkuendigen/ nach voelliger Einnehmung ordentliche Relation abzustatten." Seine Reisen beginnt Mercurius, der fortan als "Ich"-Erzähler das Geschehen wiedergibt, wegen des augenblicklichen Krieges in Amsterdam, wo er aufgrund seiner ungewöhnlichen Erscheinung für Tumult sorgt, überhastet in ein nahegelegenes Gasthaus flüchtet und sogleich zwei Dirnen in die Hände fällt. Erst nach seiner korrekten Einkleidung gelingt das Vorhaben, sich fortan unerkannt unter die sehr verschiedenen Leute wie Adelige, Gutsbesitzer, Kaufleute, Händler oder Gastwirte zu mischen, ihre Gespräche zu belauschen und auf diese Weise zu den gewünschten Informationen zu kommen.
Seine Reiseroute führt ihn über Rotterdam nach London ("Withall"), Paris ("Louvre"), Madrid, Konstantinopel, Wien ("Neue Burg"), Regensburg, Basel, Straßburg, Speyer, Heidelberg, Frankfurt, Mainz, Köln, Münster, Bremen, Hamburg, Berlin und Danzig, wo er, anstatt zur anstehenden Königswahl nach Warschau zu reisen, seine Tour abbricht und sich auf den Heimweg macht. Inhaltlich beschäftigen sich seine Berichte/Relationen vorwiegend mit dem Krieg in Holland, dem Frieden zwischen England und Holland, den Eroberungsabsichten Frankreichs in den Niederlanden und der Pfalz, den Plänen von Kaiser und Reichsständen, weiteren diplomatischen Verhandlungen sowie einem möglicherweise neuen Krieg gegen die Türken.
C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers
Die Berichte des Mercurius' beinhalten namentlich "Holland", "Engelland", "Franckreich", "Spannien", "Tuerckey" sowie "Teutschland" und thematisieren darüber hinaus noch Geschehnisse aus Schottland, Dänemark, Schweden, Polen, Litauen, "Moscow"/Russland, Ungarn, Kroatien, Italien, Portugal und den Spanischen Niederlanden in unterschiedlicher Gewichtung. In der Summe der genannten Länder, Länderteile und Provinzen ergibt sich für den anonymen Verfasser der Umriss des als "Welt=Theils" bezeichneten Europas, welches aber weitere Charakterisierungen (v. a. als "Christliche Gemeinschaft") vermissen lässt bzw. wesentlich seltener ("Mit dem Kaeiser wieder einen Krieg anzuheben/ so viel ich verspueren kundte/ hatten Sie [die Türken; Anm. d. Verf.] schlechten Magen/ ob schon/ sagten Sie/ die Christen alle gegen einander/ so machen sie es doch/ als die beissigen Hunde/ wenn die gleich am haertesten an einander/ so vereinigen sie sich doch geschwinde/ wieder den hereinbrechenden Wolffe Gegenwehr und Wiederstand zu leisten.") anspricht als in den zahlreichen Publikationen, die mit und nach der Belagerung Wiens (1683) noch auf den Buchmarkt kommen sollten.
Der Schwerpunkt der Nachrichten liegt auf dem Reichsgeschehen ("das gantze Reich in einem compendio zusammen"), das im Umfang etwas mehr als die Hälfte aller Relationen betrifft, während das Geschehen im Ausland hauptsächlich Holland und Frankreich umfasst. Die gelegentlich an ein modernes Boulevardblatt erinnernde Berichterstattung schildert die Vorgänge aus dem Mund des Götterboten zwar relativ wertneutral, doch ist eine negative Tendenz in Bezug auf Frankreich ("Es ist ja schaendlich von unserer Nation zu sagen/ dass mancher Fuerst und Herr einen aus Franckreich/ oft Verwisenen/ wol gar ein Brandzeichen auf den Buckel fuehrenden/ complementen-macherischen Frantzosen/ ich weiß nicht in was vor Wuerden erhebet") und das Türkische Reich ("Die Unfreundlichkeit selbiger Nation wollte mir nicht lange anstehen ... und nach erlangeten Pferde postierte ich ... nacher Wien/ denn das Leben in Constantinopel hatte ich noch selbigen Tag genug."), die beiderseits eine Bedrohung der Ordnung und des Friedens in Europa darstellen, nicht zu übersehen.
(rf)