Anonym [1681] "Prospect"

A Prospect Of Government In Europe, And Civil Policy.
Shewing The Antiquity, Power, Decay, Of Parliaments, With Other Historical and Political Observations relating thereunto. In a Letter.
Dimidium plus toto. Medium non deserit unquam Cœli Phœbus iter,
radiis tamen omnia lustrat. Claud.
London: Printed for Daniel Brown,
at the Sign of the Black Swan and Bible without Temple-bar. 1681.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1681) Prospect", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1681-prospect/

Schlagworte: Abhandlung; Freiheitsliebe; Institution; Parlament; Rechtstradition; Regierung; Vergleich;

Fundort: BSB / Film R 361-1338

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Bei der anonym verfassten Schrift handelt es sich um eine historisch-politisch untermauerte Abhandlung, die im Jahr 1681 in London herausgegeben wurde. Sie umfasst neben dem Titelblatt ein vollkommen unstrukturiertes, lediglich aus aneinandergereihten Stichworten bestehendes Inhaltsverzeichnis ("The Contents"), sowie einen fortlaufenden Text, der sich primär mit dem Thema der unterschiedlichen Regierungen und institutionellen Entwicklung der Parlamente in Europa auf 88 Seiten auseinandersetzt. Ein gut erhaltenes Exemplar (Harvard College Library, Coolidge Fund) der heute seltenen Abhandlung wurde von einer amerikanischen Reproduktionsfirma (UMI, Ann Arbor, Michigan) auf Mikrofilm kopiert.
Der Autor stellt seinen inhaltlichen Ausführungen mit Hesiods "Dimidium plus toto." ("Die Hälfte ist mehr als das Ganze.") sowie mit dem von Claud[ius] entlehnten Zitat "Medium non deserit unquam Cœli Phœbus iter, radiis tamen omnia lustrat." ("Das öffentliche Wohl gibt den Weg zur Sonne des Himmels niemals auf, deren Strahlen alles gleichwohl reinigen.") zwei Mottos voran, die seine politische Gesinnung erahnen lassen. Einleitend erklärt er, dass sein Untersuchungsziel eine generelle Darlegung des Wesens und der Machtbefugnisse von Parlamenten ist, als deren unbedingten Fürsprecher er sich versteht. Seine Betrachtungen, die sich an ein mit der Materie vertrautes Publikum richten, sollen alle Zeiten sowie Länder, Schriftsteller und Gebräuche ("a consideration of all as well Times and Countries, as Writers and Customs") berücksichtigen, um die Untersuchung auf ein möglichst breites Fundament zu stellen. Anders als bei dem bekannten Essay William Penns [1693] geht es ihm aber nicht um die Etablierung einer noch zu schaffenden parlamentarischen Institution für "Europa", sondern um die Untersuchung bereits vorhandener Parlamente in Ländern des Kontinents.
Den einführenden Passagen folgt ein kurzer etymologischer Abriss zum Parlamentsbegriff und dessen unterschiedliche Auffassung und Handhabung in den europäischen Nationen. Als ideengeschichtlichen Ursprung des Parlamentarismus sieht der Verfasser die Mythen des antiken Griechenlands ("Jupiter and his Parliaments of the Gods"), die realpolitisch umgesetzt und nachfolgend vom Römischen Reich, von den alten Germanen und schließlich vom Karolingerreich unter Karl dem Großen übernommen wurden. Von hier gelangte die Idee bzw. die Institution nach Frankreich und England/Britannien, wo sich die Begrifflichkeit "parliament"/"parlement" auch beiderseits durchsetzte, während sie im Deutschen Reich selbst z. B. durch "Reichsversamblung", "Concilium generale" oder "Conventus generalis" verdrängt wurde. Aber auch wenn räumliche und zeitliche Differenzen unterschiedliche Bezeichnungen entstehen ließen, so blieb die zugrundeliegende Auffassung eines "Common Councel" die gleiche. Diese thematisch als kongruent anzusehenden Begrifflichkeiten stehen darüber hinaus bei allen drei Beispielen (Deutsches Reich, England/Britannien, Frankreich), auf die sich der Autor im Laufe der Schrift fast ausschließlich konzentriert, immer in einer engen Verknüpfung mit den Topoi "Recht" und "Freiheit" ("Parliament, Right, and Liberty, were to stand and fall together"), so dass sich die gemeinsame Tradition auch angesichts dieser Fixkonstellation nicht leugnen lässt.
Im Verlauf des hohen und späten Mittelalters, insbesondere aber während des 16. und 17. Jahrhunderts entwickelten sich die "nationalen" Institutionen recht unterschiedlich. Während das alte parlamentarische System Frankreichs spätestens seit der Regierung Ludwigs XI., der eine auf Söldnern gestützte Willkürherrschaft betrieb, fast vollständig ausgehöhlt wurde, versuchten die unter dem schädlichen Einfluss der Jesuiten bzw. des Papstes stehenden deutschen Kaiser (primär Karl V.) die Folgen der Reformation durch eine absolute - folglich gegen die tradierte ständische Mitbestimmung ("Assembly of the States", "German Diet", "Electoral Colledge" etc.) gerichtete - Machtausübung zu revidieren. Daher kann gegenwärtig lediglich England eine funktionierende parlamentarische Regierungsform vorweisen. Die Mitbestimmung in England stützt sich hierbei vor allem auf die "Magna Charta", die "Petition of Rights" und das "Annual Parliament" und ergänzt die traditionelle Monarchie, die zwar eine von vielen geschätzte, aber in den Augen des Autors gefährliche Regierungsform ("In the general notion, Monarchy or Kingly Government is the most easie, and the most excellent. But corruption coming into the world, neither the Sons of Jupiter, nor the Sons of Hercules, found perfection entailed upon them: nor were exempt from their share of humane frailty.") darstellt.
Der anonyme Urheber schreibt seine Überlegungen zwar in seiner Landessprache nieder, doch weist der Text zusätzlich längere Zitate in altgriechischer, lateinischer, italienischer, deutscher und französischer Sprache auf, die einer Vielzahl antiker, mittelalterlicher sowie frühneuzeitlicher Quellen entnommen sind. Er sieht sich dabei vornehmlich in der Tradition antiker Historiker und Philosophen wie Homer, Platon und Tacitus ("first writers amongst us") oder beruft sich auf ihm zeitlich näherstehende Denker wie den französischen Staatsrechtler Jean Bodin. Als ungewöhnlich kann außerdem sein recht fundiertes Wissen in Bezug auf die französischen und (insbesondere) deutschen Rechtstraditionen und -institutionen gewertet werden, die etwa ein Drittel des Werkes ausmachen. Schließlich sind gegen Schluss der Abhandlung noch einige patriotische Passagen ("In England we have also heard of Minions, and Mistresses, and Cabals; and have had unhappy Princes. But the Laws and old Customs of the Land, the generosity of the people, and the Genius of the Nation, have still prevailed, and been too strong for all their practises and machinations.") eingefügt, die sich deutlich auf die gespannte politische Situation, wenige Jahre vor der "Glorious Revolution" (1688/89), beziehen.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Schon nach wenigen Seiten gibt der Verfasser eine entscheidende Erklärung ab, deren Tenor sich durch die gesamte Abhandlung zieht und die "Europa" als Hort der Freiheit bzw. die "Europäer" als freiheitsliebendes und nicht zu unterdrückendes Volk definiert: "Whether it be some particular generosity in our Nature, that renders us impatient of slavery: or whether the temperateness of the Climate inclines us to a moderation in our Government: Or whether it may be some favourable aspect of the Planets, (as Ptolomy would persuade us) that disposes Europe to the love of Liberty. So far as any Record or history can inform us, That Arbitrary and unlimited domination ... amongst us did always shew uncouth and … indeed to us seem altogether inconsistent with a civil people."
Nach seiner Auffassung unterscheidet diese starke Freiheitsliebe die Europäer in ihrer Gesamtheit auch von allen anderen Völkern der beiden unmittelbaren Nachbarkontinente Asien und Afrika ("For however their Asian or African Neighbours might have domineer'd it, and bluster'd; a calmer gale was always wont to breath amongst us in Europe."), die stets der Unterdrückung und Willkürherrschaft ("so familiar in the Eastern parts of the world") ausgeliefert waren und sind. Deswegen sei es nicht verwunderlich, in Europa auch den Hort des Parlamentarismus (bzw. der parlamentarischen Mitbestimmung) zu sehen, da er diese vorstechende Wesenseigenschaft aller "Europäer" auf Regierungsebene am besten zum Ausdruck bringt. Zwar habe auch "Europa" schon Tyrannei und Willkür erlebt, doch waren diese immer nur von begrenzter Dauer, weil es hier eben nicht möglich sei, kontinuierlich gegen den Willen der Bevölkerung zu regieren. Eine "europäische" Regierung müsse daher idealerweise "a politick creature", "mixt sort of Government" bzw. "Democracy Monarchial" sein, um der beschriebenen Wesensart gerecht zu werden: "This certainly is the Government that always has obtained in Europe."
Zur Begründung seiner These liefert der Verfasser eine lange Abfolge von Beispielen, die vom antiken Griechenland bis zur gegenwärtigen Situation der drei verwandten Nationen - Deutsches Reich, England, Frankreich - reichen, die ständig miteinander verglichen werden. Während dieses mehr als 2.500 Jahre umspannenden Zeitraums gab es seiner Meinung nach dabei vor allem einmal, zur Zeit und wegen der großen Machtfülle Karls des Großen, eine aussichtsreiche Möglichkeit, mit dem alten Mitbestimmungsrecht zu brechen. Doch Karl der Große entschied sich für den traditionellen Weg und bestimmte so den weiteren Verlauf der politischen Geschichte Europas: "... if there could be an opportunity of introducing a new form of Policy, this was the time. Yet Charles, so victorious, so august, so great, the like in no age before him or since ever known on this side the Alps, notwithstanding all that power and fortune, and the Imperial Crown that adorn'd him, … and his Government did still in the old parliamentary way go on and prosper." Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sei deswegen auch die Entwicklung in allen drei Ländern ähnlich verlaufen. Schließlich wurden jedoch die Mitbestimmungsinstitutionen sowohl in Frankreich (seit dem 15. Jahrhundert) wie auch im Reich (seit dem 16. Jahrhundert) mehr oder weniger entmachtet, so dass sich gegenwärtig nur noch das englische Parlamentssystem als funktionsfähig erweist. Der Name Frankreichs symbolisiere jetzt ein "Military Government", während sich das Deutsche Reich durch die Wirren der Reformation und den starken Einfluss der Jesuiten als "sick, heavy and unweildy" präsentiere.
Die Situationsbeschreibung beider Länder dient dem Autor im Anschluss als warnendes Beispiel für einen möglichen Verfall tradierter Rechte auch in England ("No room is left amongst us for a standing Army, which enslaved the French. ... And it may be hoped, we shall never so far give way, and be gull'd by Jesuitical artifice, to find another division in Religion amongst us; that may favour their designs, and, under other names, do their work as compleatly."). "Frankreich" steht in diesem Zusammenhang als Symbol für Absolutismus und Gewaltherrschaft, während das "Deutsche Reich" Religionsspaltung, Rekatholisierung und päpstliche Einflussnahme ("Popish plot") verkörpert. In beiden Fällen handelt es sich um englische "Urängste", die zur Entstehungszeit der Abhandlung einen starken Auftrieb erhalten haben, da der Thronfolger und spätere Stuartkönig Jakob II. zum Katholizismus übertritt und in enger Verbindung mit König Ludwig XIV. von Frankreich steht. Es stellt sich daher die (nicht beantwortbare) Frage, ob und inwieweit der propagierte Europabezug als eine Art Deckmantel dient, um die sich zuspitzende Situation in England - literarisch verklärt - behandeln zu können. Ähnlich wie bei der annähernd gleichzeitig und ebenfalls anonym publizierten Propagandaschrift "Europe a Slave" wird das Schicksal des freiheitsliebenden Europas aber erneut mit der inneren Entwicklung des Inselstaats verknüpft. Englands Sonderrolle in Bezug auf Europa ist somit auch in dieser Quelle nicht zu übersehen.
(rf)

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