Anonym [1682] "Discours"

Discours Eines Engelaenders/ Den Nachdenklichen Zustand Gegenwaertiger Zeiten in dem gantz erregten Europa betreffend/ Daneben vorstellend: Durch welche Mittel die Durchleuchtigte Monarchie von Frankreich enger eingeschlossen/ und zu groesserer Moderation koenne gebracht werden.
Daniel, 2. Vers. 42. Und dass die Zee an seinen Fuessen eines Theils Eisen/ und eines Theils Thon sind/ wirds zum Theil ein starck/ und zum Theil ein schwach Reich werden.
Aus der Englischen in die Frantzoesische/ und aus dieser in die Teutsche Sprache uebertragen.
[s. l.] Anno 1682.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1682) Discours", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1682-discours/

Schlagworte: Diskurs; England; Flugschrift; Frankreich; Gleichgewicht; Körper; Schiedsrichter; Universalmonarchie;

Fundort: BSB / Res / 4 Eur. 377,1

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Die vorliegende Quelle erscheint im Jahr 1682 anonym, ohne Angabe eines Druckortes und ohne Nennung des Verlegers. Sie stellt nach eigenen Angaben die zweite Übersetzung eines ursprünglich englisch abgefassten Textes dar, umfasst 40 unnummerierte Seiten und beinhaltet neben dem Titelblatt ein kurzes Vorwort ("An den guenstigen Leser") sowie den in drei Abschnitte unterteilten Diskurs.
Im Vorwort bedient sich der Autor bzw. Übersetzer der Schrift der bei Herodot überlieferten Geschichte des reichen Königs Croesus, der Zeit seines Lebens stumm gewesen war, bis er seinen Vater in Lebensgefahr wähnte und ihn durch ein lautstarkes Einschreiten zu retten vermochte. Dieses Beispiel überträgt er auf die aktuelle Situation, in der "das Teutsche Vaterland" und "der mehrere Theil der Europaeischen Potentaten" durch "die blutgierige Hand eines außlaendischen Friedenstoerers" bedroht werden. Deswegen sei "eine kraeftige Hand" oder wenigstens "ein foerderliches Huelff=Geschrey" notwendig, um auf die Gefahr hinzuweisen und weiteren Schaden abzuwenden. Während die Vorwürfe in der Einleitung noch recht unklar wiedergegeben werden, nehmen sie schließlich im ersten Abschnitt des Diskurses konkretere Formen an: "Der edle Friede [ist] aus der Cristl[ichen]. Welt verjaget/ und dagegen [ist] gantz Europa mit allerhand Massacres und Blutvergiessungen angefuellet/ dessen Glieder gleichsam verrenket/ oder vielmehr zu sprechen/ desselben Koenigreiche und Fuerstenthuemer/ ziemlich zerruettet und zertheilet worden". Die Ursachen hierfür seien "der allerschaedlichste Herrschaffts=Geitz" und "die Ehr= und Blut=suechtige Begierde weit und breit zu herschen/ und endlich dadurch eine Universale Monarchie anzustifften."
Der Drang nach einer Universalmonarchie in und über Europa stelle zwar keine neue Gefahr dar, weil er spätestens seit der Herrschaft des spanischen Königs Philipp II. die politischen Vorstellungen beherrsche, doch sei die Bedrohung niemals zuvor so akut gewesen wie im Augenblick: "Gleich wie nun hiemit so wol die Frantzosen als Hispanier/ auff gantz ungemeine Art bezaubert sind; So haben Sie auch beyderseits ihnen unnachlaessig angelegen seyn lassen/ ihre heranwachsende Macht/ denen uebrigen Theilen Europæ sehr nachdencklich und formidabel zu machen. Wie weit nun einem und anderem Theil solches seye gelungen: So ist gar nicht zu laeugnen/ daß der Frantzose viel naeher als der Hispanier/ das Ziel dieser allgemeinen Beherschung habe erreichet." Die Ausgangslage Ludwigs XIV. erscheint ihm aber auch außergewöhnlich zu sein, da der französische König "die Versammlungen allerhand Staende seines Reichs/ nunmehro gaentzlich abgeschaffet und verboten / dem Volcke/ seine Autorität und den jenigen Theil der Regierung/ wessen sich selbiges mit allen anderen mixtis Monarchiis von Europa zu erfreuen gehabt haette/ entnommen/ und ihm eine gantz ungemessene und ungebundene Gewalt zugeeignet / auch die freye Bestimmung und imposition aller Schatzungen und Anlagen/ welche doch eigentlich das Blut sind/ womit die Adern eines so grossen Leibes angefüllet sind/ ... außgeschlossen [hat]." Deswegen repräsentieren die Franzosen im Okzident augenblicklich auch das, für "was der Turc im Orient" stehe, nämlich eine Bedrohung der Christenheit (und) Europas.
Indem der Verfasser darauf verweist, dass das wichtigste Ziel Frankreichs auch nach dem letzten Krieg die Eroberung und Einverleibung der Spanischen und Vereinigten Niederlande bleibe, leitet er auf das Thema des zweiten Abschnitts über. Englands Interessen wie der Freihandel und der Schutz des Protestantismus würden durch diesen Plan unmittelbar betroffen und es sei unbedingt notwendig, dass sich das Inselreich erneut auf seine tradierte Rolle als Schiedsrichter ("das Amt der Schiedsleute unter denen benachbarten Fuersten und Herrschafften ueber sich zu nehmen") und Bewahrer des Gleichgewichts ("das æqvilibrium von ganz Europa procuriren") besinne, die es seit der Herrschaft Heinrichs VII. innehabe. Es müsse seine Sorglosigkeit gegenüber Frankreich endlich ablegen (vgl. mit den Forderungen in Anonym [1681] "Slave") und sich die historisch gewachsene Urfurcht der Franzosen vor den Nachbarn auf der anderen Seite des Ärmelkanals zu Nutze machen. Im abschließenden dritten Teil des Diskurses geht der Autor noch kurz auf die innenpolitischen Schwierigkeiten Englands ein und fordert die beiden Machtfaktoren des Landes, König und Parlament, zu einem einheitlichen Vorgehen auf. Diese "innere" Verständigung werde zeigen, ob sich England als "vortreffliche Nation" behaupten und seinen Verpflichtungen nachkommen kann.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Ungewöhnlich an dieser Quelle ist, in welch vielfältigem Beziehungsgeflecht der Verfasser den Begriff "Europa" einsetzt. Während er als Hort der Christenheit lediglich rudimentär abgehandelt und geographisch ungefähr mit Mittel- und Westeuropa (Erwähnung finden in den relativ knappen Ausführungen Spanien, Frankreich, England, Irland, Deutsches Reich, Spanische Niederlande, Vereinigte Niederlande, Schweiz und Italien) gleichgesetzt wird, korrespondiert er gleichzeitig mit dem aufkommenden Nationenbegriff (allerdings im Sinne eines speziell englischen nationalstaatlichen Interesses) sowie der überlieferten Metapher vom Körper "Europas". So erscheint die Gefahr, die vom französischen König ausgeht, der unter Anführung einiger Zitate aus dem Werk Machiavellis als "ein Feind des Menschlichen Geschlechts" beschrieben wird, gleichsam eine Gefahr für den Leib "Europas" zu sein, auf die in vielfältiger Weise ("Europa vergewaltigen", "Einverleibung eroberter Gebiete", "die Adern eines so großen Leibes", "vornehmste Glieder separieren") hingewiesen wird.
Auf dieser Basis begründet der Autor den eigentlich Dreh- und Angelpunkt der Abhandlung, der in der Sonderrolle Englands besteht. England besitzt aus seiner Sicht kein Interesse daran, seine natürlichen, von Gott fixierten Grenzen ("limites") in "Europa" zu verschieben. Die Aufgabe des Inselreiches besteht vielmehr darin, als gerechter Schiedsrichter und Wahrer des göttlichen Gleichgewichts (siehe hierzu den auf dem Titelblatt zitierten 42. Vers aus dem 2. Buch Daniel) die Realisierung eines Konzeptes wie das der Universalmonarchie zu verhindern. Die schädliche "einfache oder vollkommene Monarchie", wie sie in Frankreich unter dem Sonnenkönig entstanden sei, trachte aber nach der Erlangung der universalen Machtausdehnung und müsse daher unter allen Umständen verhindert werden, um den "Leib Europas" nicht genauso zu schädigen wie den Leib(esteil) Frankreich(s). Das Schicksal Europas hängt demnach völlig von der Entscheidung Englands ab, sich seinen Aufgaben zu stellen und eine antifranzösische Allianz ins Leben zu rufen, um so das Gleichgewicht in Europa zu restaurieren und zu sichern.

(rf)

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