Anonym [1683] "Pasqvinus"

Der Unter Warnehmung/ der Denen Hohen in der Welt schuldigen Pflicht und Devotion zwar Tadelende doch Ungetadelede Pasqvinus,
Oder Unpartheilich= und Unanzugliches Ermessen über die Meriten der Höhesten Häupter und dem Zustand Ihrer Staate und Republiqven in Europa.
[s. l.] Anno MDC LXXXIII.

Zitierweise: Alexander Wilckens: Quellenautopsie "Anonym (1683) Pasqvinus", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1683-pasqvinus/

Schlagworte: Frankreich; Schmähschrift; Streitschrift; Türken; Universalmonarchie;

Fundort: ÖNB / 153.694-B. Alt. Mag. / MF-3621

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Der "Pasqvinus" ist eine politische Streit- und Schmähschrift, die in der Zeit nach der erfolgreich abgewendeten Türkenbelagerung Wiens entstanden ist und gedruckt wurde. Die Quelle umfasst 8 Blätter im 4° Format und besteht aus dem Titelblatt, einer kurzen Einleitung in Prosa und 69 Quartetten (eine einleitende und 68 nummerierte Strophen mit der Reimstruktur 1_3, 2_4). Das Exemplar in der Österreichischen Nationalbibliothek liegt seit 1996 zusätzlich auf Mikrofilm vor. Aufgrund des schlechten Zustands des Originals ist eine gute Lesequalität an manchen Stellen der Reproduktion aber nicht gewährleistet.
In der schlicht "Pasqvinus S. L." betitelten Einführung dient der lateinische Satz "In libera Civitate liberæ qvoq; debent esse Lingvæ" ("Im freien Staat muss auch die Sprache frei sein") als Rechtfertigungsmotto für die nachfolgenden satirischen Äußerungen der Schmähschrift. Anders als in Italien und Frankreich, wo dieser Satz beachtet werde und "die Großen ihre Fehler noch bey Zeit erkennen", wolle man sich in Deutschland "seine Mängel und Gebrechen nicht unter die Augen stellen lassen", sondern viel lieber weiter in der Blindheit tappen und "zu seinen desto unvermeidlichern Verderben/ sich noch wohl gar geschmeichelt sehen". Mit seinem Tadel bezweckt der anonyme Verfasser, dass die Verbrechen wirklich als solche vernommen werden, denn im Staat gelte dasselbe wie bei den Krankheiten: "was nicht schmertzet/ heilet auch nicht". Nach dieser in der Frühen Neuzeit weitverbreiteten hippokratischen Metapher führt erst die "Crisis" die Genesung herbei. Daher wünscht sich der Autor, "daß die gekränkten Staaten das letztere wahr zu seyn ehestens fühlen und empfinden mögen!"
In den Reimen wägt der Verfasser die Verdienste der verschiedenen europäischen Fürsten ab und spottet zugleich über die gegenwärtige Situation Europas, indem er anzügliche Bemerkungen über die Fürsten und Staaten in einer kurzen und prägnanten Weise vorbringt. Seine satirischen Äußerungen sollen eine Besinnung der Fürsten auf die wahren christlichen Interessen anregen, um das Wohl des Staates und des Gemeinwesens wieder in den Blickpunkt zu stellen. So schreibt der Urheber in der einführenden, "der Tadelnde und doch ungetadelte Pasqvinus" betitelten Strophe:

"Wo Einigkeit zerfällt/ wo Lieb und Treu verschwinden/
Da ist es leider schon umb einen Staat gethan.
Es muß Vertraulichkeit Hertz/ Sinn und Muth verbinden/
Der Fürsten/ sonst ist Haupt und Glieder übel dran."

Die nachfolgenden Strophen des "Pasqvinus" sind jeweils einem anderen Fürsten oder Volk, Staat oder Stadt, Körperschaft oder Institution gewidmet und durch einen kurzen Titel entsprechend gekennzeichnet. Die Charakterisierungen beziehen sich auf die politischen Begebenheiten seit der Jahrhundertmitte. Neben den Verhältnissen in England, in den Niederlanden, im Reich oder in Italien wird die auf Hegemonie ausgerichtete Politik Frankreichs mit den Interventionen des französischen Königs in Deutschland, in den Niederlanden usw. besonders deutlich hervorgehoben. Die einzelnen Strophen verraten ein Verständnis von politischer Wirklichkeit, das sich sehr deutlich auf die Notwendigkeit der Verhältnismäßigkeit in der Politik beruft und stoisch die Merkmale eines absoluten Systems festhält, wie sie speziell für den Fall Frankreichs ausgedrückt werden (Strophe 66): "Ein Gott/ Ein Fürst/ Ein Recht/ muß nur in Franckreich seyn".

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

"Europa" ist in der anonymen Streitschrift zunächst als die Summe der Staaten und Machtgebilde zu verstehen, deren Häupter und Völker explizit genannt werden. So sind die Königreiche, Fürstentümer und Republiken von England und Portugal im Westen bis nach Polen und dem Osmanischen Reich im Osten sowie von Italien im Süden bis nach Schweden im Norden unter dem Begriff subsumiert. Eine gewisse feudale Hierarchie ist bei der Auflistung der europäischen Mächte, vorwiegend bei Papst ("das Haupt der Kirchen") und Kaiser ("das Haupt der Christenheit auff Erden"), noch zu bemerken, doch weicht sie nachfolgend deutlich zugunsten realer machtpolitischer Verhältnisse ab, wodurch der König von Frankreich besonders hervorgehoben wird.
Die vom Verfasser gezeichnete europäische Welt wird von Uneinigkeit, Eigennutz und Untreue beherrscht. Die verschiedenen Herrscher werden direkt oder indirekt gemahnt, sich auf die wahren Interessen ihrer Staaten zu besinnen, um sie nicht zu verlieren. So wird der Kaiser aufgefordert, im Reich nicht länger den "Pfaffen" die Herrschaft einzuräumen und Ungarn nicht den Jesuiten zu überlassen, die das Königreich durch Gewissenszwang zu zerstören drohen. Ähnliches gilt für andere Fürsten, wobei besonders der verstorbene Bischof von Münster, Christoph Bernhard von Galen, in den dunkelsten Farben geschildert wird. Treue gegenüber dem Staat und dem Staatsoberhaupt gilt als eine der wichtigen Tugenden. So wird z. B. dem Herzog von Mantua (Strophe 53) gesagt:

"Wer sich Verrätherey besteift/ wird drin verderben/
Der Hehler ist doch stets so straffbar als der Dieb;
Wer hier auff dieser Welt wil wahren Ruhm erwerben/
Muß Ehr und Redlichkeit von Herzen haben lieb."

Nur die Fürsten, die das gemeine Wohl und die wahren Interessen eines christlichen, auf Recht und Frieden basierenden Staates nicht vergessen, ergeht es wie dem Herzog von Braunschweig (Strophe 24):

"Wann Einigkeit regiert der Hohen Printzen Hertzen/
Wen[n] Fried und Krieg erwünscht in gleichen Schrancke[n] gehn/
Wann man ein Abscheu trägt/ die Treue zu verschertzen
Umbs Geld/ so muß es wohl in Fürstenthümern stehn."

Das Vergessen dieser Tugenden, sowohl in Deutschland wie auch in den anderen europäischen Staaten, ist das, was die hegemoniale Politik des französischen Königs ermöglicht. Ludwig XIV. wird als die größte Gefahr für die europäischen Fürsten dargestellt, da er nicht nur die anderen Königreiche unterjochen will, sondern auch sein eigenes Volk mit Mark und Bein verzehrt. So mahnt der Verfasser ganz Europa (Strophe 61), sich dem ludovizianischen Anspruch auf eine Universalmonarchie zu widersetzen:

Was Kayser Carl der V. vor mehr als hundert Jahren
Werckstellig machen wolt/ hat Ludwig nun im Sinn/
Ihr Fürsten waffnet Euch/ Ihr werdet sonst erfahren/
Daß Euer Hoheit Ruhm wird fallen plötzlich hin."

Gegenüber den französischen Absichten verblasst nun die Türkengefahr. Der "türckische Käyser", der zwar zu Europa gezählt werden kann, aber im politischen Kontext als der traditionelle Feind des christlichen Europas begriffen wird, erscheint in der Schrift bei weitem nicht so gefährlich wie der König von Frankreich. Vor Wien besiegt (der polnische König wird in der neunten Strophe als Trost des Kaisers Leopold und als der alleinige "Held von hoher Tapfferkeit" für diesen Sieg gepriesen), musste er nun das Feld räumen, wie die letzte Strophe mitteilt:

"Dein Sebel ist gefürcht/ du weist ihn auch zu führen/
Doch fehlt dirs noch an dem/ was sonst Soldaten macht/
Drumb must dein grosser Hauff bey Wien das Feld quittiren/
Und ward im Ansatz gleich in schnöde Flucht gebracht."

Das christliche Europa wird somit mehr von innen als von außen bedroht. Die spöttischen Verse des unbekannten Verfassers sollen Recht und Frieden in der europäischen Welt wieder zu ihrem Recht verhelfen und mit einer neuen Wertigkeit versehen.

(aw)

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