Das Regiersuechtige Franckreich.
Worinnen Der Europaeischen Welt/ sonderlich aber Franckreichs Regiersucht/
und dahero entstehende vielfältige Kriege/ deroselben Ursachen/ Progressen und Congressen, ingleichen die schluepferigen und listigen Staatsgriffe/ und Raison de Gverre, &c. von langen Zeiten her unpartheyisch vorgestellet werden.
[s. l.] In Verlegung des Autoris, Anno 1684.
Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1684) Franckreich", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1684-franckreich/
Schlagworte: Christenheit; Diskurs; Eintracht; Frankreich; Pamphlet; Türkenkrieg; Universalmonarchie;
Fundort: BSB / Res / Eur. 377,64
A) Kurzbiographie | B) Beschreibung der Quelle | C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers |
[Anonymer Verfasser]
Wie der Titel bereits vermuten lässt, handelt es sich bei der Quelle um ein Pamphlet, das sich, gedruckt im Jahr nach der Belagerung Wiens durch das türkische Heer, gegen die auf Hegemonie ausgerichtete Außen- und Bündnispolitik Frankreichs richtet. Sie umfasst neben dem Titelblatt 60 [eigentlich 62] fortlaufende Kapitel, die teilweise falsch nummeriert und gezählt wurden.
Zu Beginn greift der Autor auf die im 17. Jahrhundert häufig verwendete Figur des stets reisenden Gottes Mercurius (siehe Anonym [1674] "Goetter=Both") zurück, der die neuesten Nachrichten vom europäischen Kriegsverlauf zum Parnass bringt, wo ihn die versammelte Götterwelt bereits erwartet. Sein Bericht wird von der Runde unterschiedlich aufgenommen und wirft die Frage auf, "warum doch in Europa und unter denen sogenandten Christen wenig Fried und bestaendige Eintracht zu finden; noch mehr aber/ warum Franckreich eine lange Zeit hero so unruhig gewesen/ und nur immer mit blutduerstenden Waffen seine Nachbarn/ sonderlich das edle und Friedliebende Teutschland so grausam verfolget/ dass es unter Christen und Religions-Verwandten fast nicht erhoeret und zu verantworten sey/ wie dann solches das jaemmerlich verwuestete Elsaß und Rheinstrom gnugsam bezeuget." Juno, Mars und Venus verteidigen Frankreich und begründen ihre Haltung damit, dass Macht und Größe generell nur durch den Krieg zu erreichen seien, während Irene für Frieden und Glückseligkeit eintritt und allgemein vor den Auswirkungen des Krieges warnt. Der Verfasser lässt die Diskussion mit dieser Parteinahme enden und verwendet die Episode als Einleitung zu einem klassisch strukturierten Diskurs zwischen einem Staatsmann, einem Geistlichen und einem - stets übergangenen - Soldaten (vergleiche Anonym [1684] "Staats=Perspectiv"), der bis zum Schluss des Quellentextes andauert.
Der Diskurs beginnt mit dem generellen Abwägen über das Für und Wider des Krieges, wobei der Geistliche den Standpunkt vertritt, dass keinerlei unschuldiges, insbesondere christliches Blut vergossen werden darf, da es Gottes Wille ist, dass alle Christen friedlich miteinander leben sollen. Am jüngsten Tag würde keinem noch so erfolgreichen Potentaten die Ausrede helfen, während seiner Lebenszeit lediglich nach irdisch relevanten Bezügen wie der "reputation", der "raison de gverre" oder anderen "Stats=Maximen" gehandelt zu haben, da er dann nach christlichen Maßstäben beurteilt und ins Verderben stürzen werde. Julius Caesar oder Alexander der Große wären hiervon ebenso betroffen wie fast alle französischen Könige seit - dem auf dem Totenbett aufgrund seiner Machtgier verzweifelten - Franz I., der als erster Monarch ein Bündnis mit den Türken und "einen Krieg wider seinen Glaubensgenossen" befohlen hatte. Dieser Haltung stehen die Einwände des Staatsmannes gegenüber: "I. ist bekant/ dass Gott der hohen Obrigkeit das Schwerdt nicht umsonst gegeben hat. II. Will Gott/ dass die Koenigreiche und Republiquen erhalten werden/ und in Fried und Sicherheit leben moegen/ welches ohne Krieg und Waffen nicht allezeit geschehen kan. III. Lieset man nicht in der Schrifft/ dass dieser Stand/ nemlich der Soldaten/ verbotten sey/ sondern nur/ dass sie niemand unrecht noch gewalt thun sollen; ... Zum IV. wuerden lauter Raubereyen und andere Laster vorgehen/ wenn man die Waffen verwerffen wollte. ... So muß auch ferner ein Unterschied gemachet werden/ unter denen Bellis Offensivis & Defensivis; diese können jederzeit mit gutem Gewissen von einer Christlichen Obrigkeit vor die Hand genommen werden." Der Priester schlägt daraufhin vor, alle Europa betreffenden Kriege des 16. und 17. Jahrhundert zu untersuchen und prophezeit, dass sie lediglich aus Begierde und Missgunst geführt worden seien.
In der Folge werden die Kriege Franz' I., Heinrichs II. sowie der Dreißigjährige Krieg thematisiert und der Kreis der Akteure um einen Franzosen und einen Spanier erweitert, die jeweils die vergangene und aktuelle Politik der Habsburger bzw. der Valois/Bourbonen kommentieren sowie entschieden verteidigen. Im Laufe des Diskurses verhärten sich die Fronten zwischen den beiden Neuankömmlingen und der Geistliche wundert sich vor allem über die stark ausgeprägte Feindseligkeit des Spaniers, welcher als strenger Katholik der Nation des als "allerchristlich" bekannten Königs Ludwig XIV. doch wohlgesonnen gegenüber stehen müsste. Schließlich kommt er zu dem Schluss, dass die kontinuierliche Demütigung Spaniens durch Frankreich, die sich beide die Etablierung einer Universalmonarchie zum Ziel gesetzt hätten und die Madrid im vergangenen Jahrhundert vor Augen hatte, während Paris/Versailles sie zum jetzigen Zeitpunkt erreichen will, diese unüberbrückbar scheinende Feindseligkeit verursachte. Mehrmals hält er die beiden Kontrahenten von einem offenen Kampf ab und fühlt sich in seiner Aussage bestätigt, dass weniger eine unterschiedliche Natur die Länder Europas verfeindet, als vielmehr "eine all zu tieff eingewurzelte Regiersucht".
Als deren schlimmste Repräsentanten entpuppen sich im Anschluss erneut Frankreich und seine Könige, deren, mehrheitlich historisch belegte "Untaten" immer stärker ("Der Franzos war hierueber gar unwillig, daß ihm die Warheit von denen Franzoesischen actionen ... unter die Nase gerieben/... daß seine Nation bißhero wider gegebene Treue und Versprechen zum oefftern augenscheinlich gehandelt habe;") in den Vordergrund der Ausführungen rücken. Schließlich wird im 35. Kapitel bezweifelt, ob sich die französische Staatsmaxime und die Methoden ihrer Durchsetzung (Taktik des als unchristlich geltenden Angriffskrieges, "widernatürliche" Abkommen mit dem christlichen Erbfeind) jemals ändern werden, was anhand einer Abhandlung bewiesen werden soll, die einen weit ausholenden Abriss der französischen Historie seit Karl dem Großen darstellt und sich über alle restlichen 25 [27] Kapitel erstreckt. Die Schrift endet mit dem Motto "Soli Deo Gloria".
C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers
Der unbekannte Urheber des Pamphlets versteht unter dem Begriff "Europa" zunächst die Summe aller christlichen Monarchien, Fürstentümer und Republiken des Kontinents. Der andauernd schlechte, weil immer wieder durch verheerende Kriege verwüstete Zustand Europas beruht auf dem Besitz- und Machtstreben der Potentaten, die eigentlich aufgrund ihres gemeinsamen Glaubensbekenntnisses in Eintracht und Frieden miteinander leben müssten. Obwohl der christliche Einheitsgedanke für den Verfasser von genereller Bedeutung scheint, fordert er ihn nun, zur Zeit des neuerlichen Türkenkrieges, mit Nachdruck ein, weil jeder der christlichen Fürsten Europas nun in die Pflicht genommen werden müsse, "sich der bedraengten Christenheit ... so sehr als seiner selbst anzunehmen; in Ansehung, dass die Christliche Kirche als ein Leib sey/ dahero ein Glied des andern Noth und Anliegen fühlen/ auch zugleich bekuemmert seyn soll/ demselben Hüllfe zu schaffen."
Seine Augen richtet er dabei in erster Linie auf Frankreich, das sich von seinen verwerflichen Zielen, die sich seit fast zwei Jahrhunderten ausschließlich am Eigennutz orientiert hätten, lösen und der sonst geschlossenen Abwehrfront gegen das Osmanische Reich anschließen soll. Erst die zumeist von den Franzosen ins Leben gerufene Uneinigkeit der christlichen Potentaten hätte es den "türkischen Bluthunden" überhaupt ermöglicht, Teile Europas einzunehmen und die Grenzen des Orients (!) so weit nach Westen vorzuschieben. Wäre das Eintrachtgebot Christi bereits zu Beginn des vorhergehenden Jahrhunderts beachtet worden, "waere so viel Zwietracht und Unruhe/ so viel Jammer und unsaeglich Elend in der Christenheit verhuetet/ und dem Tuercken so viel herzliche Laender der Christen nicht in die Haende gespielet worden/ welches jedweder rechtschaffener Christ billich bejammern/ und mit blutigen Thraenen beweinen sollte ...".
Spätestens jetzt sei der Zeitpunkt gekommen "mit der festen Resolution und Christglaubigen Confidenz/ durch Goettliche Hülffe/ das aberglaubische Laester=Reich zu zerstoeren/ ... daneben die beaengstete Christenheit [zu] retten/ und etwa die herrlichen Laender in dem Orientalischen Theil Europae und angrenzenden Asien/ als Dacien/ Thracien/ Hungarn/ Griechenland [einschließlich Candias und Zyperns; Anm. d. Verf.] ... wieder ab[zu]nehmen/ damit der sonst maechtige Feind in die Enge getrieben [wird]". Die eroberten Länder und Gebiete Südosteuropas besitzen demzufolge einen Sonderstatus, da sie auf der einen Seite einen geographisch definierten Teil des europäischen Kontinents ausmachen, aber auf der anderen Seite das ausschlaggebende Merkmal Europas, nämlich die Zugehörigkeit zur christlichen Religion - wegen ihrer Eroberung und Besatzung durch Muslime - nicht geltend machen können. Ihr Schicksal wird fortwährend mit der Haltung bzw. Einflussnahme Frankreichs verknüpft, dessen geforderte Abkehr von der "Regiersucht" das Schicksal "Gesamteuropas" zum Besseren wenden könnte.
(rf)