Anonym [1684] "Ombre-Spiel"

Neues Koenigl. Frantzoes. à l'homme und Hoc-Mazarin,
Benebenst dem Paebstlichen und seines Anhanges spitzfuendigen l'Ombre-Spiel/
Oder Warhaffter Entwurff derer ietzigen unter Geist= und Weltlichen hohen Potentaten schwebenden Conjuncturen in Europa.
[s. l.] M. DC. LXXXIV.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1684) Ombre-Spiel", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1684-ombre-spiel/

Schlagworte: Ausgleich; Christenheit; Flugschrift; Gedicht; Glücksspiel; Leopold I.; Ludwig XIV.; Satire;

Fundort: BSB / Res / 4 P.o.germ. 229,28

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

zum Seitenanfang

 

B) Beschreibung der Quelle

Diese im Jahr 1684 ohne Angabe von Autor, Verleger oder Druckort erschienene Quelle ist der im 17. Jahrhundert weit verbreiteten Gattung der Flugschriften zuzuordnen. Von der Quelle existieren zwei leicht voneinander abweichende Fassungen, wobei der wesentliche Unterschied im Umfang (acht bzw. zwölf Blatt) besteht. Es kann daher angenommen werden, dass es sich bei der seitenschwächeren, selteneren Quellenvariante um einen Fehldruck handelt. Die zwölf Blatt umfassende Ausgabe ist unter Verwendung einfacher drucktechnischer Mittel hergestellt und gliedert sich in ein schmuckloses Titelblatt, ein zweiseitiges Vorwort, das der Sendgott "Mercurius" stellvertretend für den Verfasser an die Leserschaft richtet, sowie in ein 86-strophiges satirisches Gedicht, das von einer durchgehend simplen Reimstruktur (aabb) geprägt ist. Dabei weichen nur die Strophen 47 (acht Verse), 84 (22 Verse), 85 (elf Verse) und 86 (zwölf Verse), die jeweils Vorschläge des Verfassers oder eine Art moralisches Fazit bergen, von der generellen Zwei-Vers-Gliederung des Textes ab. Außerdem existiert eine optische wie thematische Trennlinie zwischen den Strophen 1 bis 47 sowie 48 bis 86. So behandelt die erste Gruppe überwiegend politische Probleme, während die zweite primär religiöse bzw. religionspolitische Themen kritisch-lakonisch fokussiert.
Wie aus dem Vorwort abzulesen ist, hat der anonyme Urheber des Gedichtes seinen Text zur Anschauung der gegenwärtigen Situation in Europa und zur gleichzeitigen Unterhaltung seiner Leserschaft geschrieben. Ausschlaggebend ist für ihn "die im 12. Jahr praesentierte Frantzoes[ische] Tragoedia", die "Teutschland und denen benachbarten Koenigreichen" seit dem Ausbruch des Holländischen Krieges (1672-1678) betrifft. Seitdem präsentiere sich die politische Situation in Europa wie ein Glücksspiel, das den an den Höfen beliebten "Piquet"- oder "L'Ombre"-Kartenspielen gleiche. Als Drahtzieher des Spielgeschehens, als Groupier des Spieltisches identifiziert der Autor dabei eindeutig den französischen König Ludwig XIV., der zusammen mit den allmächtigen Jesuiten in erster Linie den deutsch-römischen Kaiser Leopold I. immer wieder zu neuen und unüberlegten Partien verführe. Außerdem versuchten auch die meisten anderen europäischen Potentaten und die Fürsten des Reiches an diesen Glücksspielen teilzunehmen, weil sich jeder dadurch einen Vorteil versprechen würde. Doch jeder "Homo ludens" müsse letztlich begreifen, dass die wesentlichen Merkmale des Spiels Glück und Zufall seien, denen mit Taktik und Verstand langfristig nicht beizukommen ist.

zum Seitenanfang

 

C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Für den anonymen Verfasser der Flugschrift gleicht Europa einem Spieltisch, vor dem sich zahlreiche europäische Monarchen, Fürsten, Ratsherren oder Kleriker scharen, um an dem einen oder anderen Spiel teilzunehmen und ihr Glück zu versuchen. Jeder von ihnen kommt in einer der 86 Strophen zu Wort, egal ob er einen Einsatz bedauert, Versprechungen macht, Warnungen ausspricht oder nochmals in das Geschehen eingreifen möchte. Dabei springen die gereimten Wortmeldungen recht unübersichtlich von einem zum nächsten, so dass es dem Leser schwer fallen dürfte, eine logische Struktur innerhalb des Gedichtes zu erkennen. Schnell begreift er hingegen, dass der Urheber und Lenker des Spiels der französische König ist, der bereits in der ersten Strophe das Wort ergreift und bisher der Nutznießer des Spielvergnügens ist. Doch auch alle anderen sind lediglich auf ihren Eigennutz bedacht und genau darin liegt das Manko Europas, denn anstatt sich auf ihre gemeinsame christliche Tradition und Brüderlichkeit zu besinnen, belauert und blockiert sich die Machtelite selbst. Dabei wird die Christenheit doch von den feindlichen "Asiatischen Voelckern", insbesondere vom "Tuerck" bedroht, den man gemeinsam bekämpfen müsse.
Vor allem der Sonnenkönig, der in seiner Machtgier sogar mit dem Feind paktiert hat, und der Kaiser, der bisher in erster Linie durch seine Führungsschwäche aufgefallen ist, müssten mit gutem Beispiel vorangehen und die Grenze (Pforte) gegen Asien sichern. Dem scheinbar unvereinbaren Ziel der beiden Kontrahenten, die jeweilige Hegemonie in Europa zu erlangen und zu behaupten, setzt der Verfasser dabei einen eigenen Vorschlag entgegen, welchen er durch das Götterduo Apollo / Mars verkünden lässt, die am Ende der ersten Strophengruppe als "Dei ex machina" auftauchen:

"Nun ist es rechte Zeit/ ihr Haeupter dieser Erden/
Daß eure Irrungen gleich hingeleget werden/
Itzt koent verdunckeln ihr des Tuercken halben Mond/
Weil dieser Streich die Mueh' euch reichlichen belohnt,
Druem hoer nun Ludwig auf mit Christen=Blut zu spielen/
Laß deine tapffre Faust den Tuerckschen Bluthund fuehlen/
Ihr Deutschen Helden auff/ verbindet eure Macht/
Damit er einmahl werd von Cron und Thron gebracht/
So wird sich Leopold und Ludewig recht paaren
Auff Kayserlichen Thron/ wie vor achthundert Jahren
Nicephorus und Carl beherrschten diese Welt/
So kan auf diesen Fuß es wieder seyn gestellt,
So dann wird Ludewig den Orient regieren/
Und sein Mahlzeichen recht zu seinem Aufgang fuehren/
Ind Leopold beherrscht den West= und Norder=Pol/
So spielt glueckselig ihr/ bedenckts nur selber wohl!"

Dem Autor schwebt folglich eine Teilung der "Welt" vor, um den christlichen Bruderzwist der beiden mächtigsten europäischen Potentaten zu beenden. Als historisches Beispiel führt er hierzu den Machtkampf zwischen dem fränkischen Kaiser Karl dem Grossen (742/3-814) und dem byzantinischen Kaiser Nikephoros I. (ca. 765-811) an, der im Frieden von Aachen (812) durch die gegenseitige Anerkennung der beiden Imperien endlich zu einem Ausgleich im Machtgefüge geführt hatte. Leider fehlen in dem Gedicht jedoch weitere Ausführungen, wie ein solcher Ausgleich zum aktuellen Zeitpunkt erreicht werden könnte, da der Urheber des Gedichtes seinen Vorschlag als eine Art unkommentierte Schlussnote setzt, die auch in der zweiten Strophengruppe nicht mehr aufgegriffen wird.

(rf)

zum Seitenanfang