Anonym [1684] "Staats=Perspectiv"

Europaeisches Staats=Perspectiv/
Worinnen/ Diejenigen Conjuncturen Der Potentaten in Europa/Deroselben weitaussehende Kriegs=Ruestungen/ Und dergleichen Laender=begierige gefaehrliche Anschlaege/ sonderlich der Tuercken und Franzosen/ Nebst verschiedener Curiösen Begebenheiten/ unpartheyisch vorgestellet werden/ von dem Authore. Auf eigne Kosten.
[s. l.] Gedruckt im 1684. Jahr.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1684) Staats=Perspectiv", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1684-staatsperspectiv/

Schlagworte: Christenheit; Diskurs; Frankreich; Streitschrift; Türkisches Reich; Universalmonarchie;

Fundort: BSB / 4 J.publ.e. 244

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Das "Staats-Perspectiv" berichtet von den aktuellen Gefahren, in denen sich Europa durch Intrigen, Machtstreben, Bündnispolitik und damit einhergehende Kriegsabsichten befindet. Die Quelle umfasst neben dem Titelblatt 18 fortlaufende Kapitel, die nicht durch weitere Bestandteile wie ein Vorwort, Inhaltsverzeichnis oder Bildillustrationen ergänzt werden.
Das erste Kapitel, das der Autor als thematische Einleitung zu einem nachfolgenden Diskurs versteht, bezeichnet "die grosse Regiersucht und unersaettliche Laender=Begierde so wohl Christlicher als unchristlicher Potentaten" als den größten Trieb und die stärkste Quelle, warum "so viel Krieg und Blutvergiessen entsprungen/ auch ganz Europa dadurch verwirret und beunruhiget worden ist." In diesem Zusammenhang sei "das gute und friedliebende Teutschland" aufgrund seiner geographischen Mittellage am häufigsten "der schoene und zugleich blutige Zank-Apfel" gewesen, wobei "unter denen groesten und maechtigsten Mißgoennern eins Theils der Tuerke/ anders Theils der Franzose [seyn]".
Eine ähnliche Tendenz, dem Römischen Reich den Rang innerhalb Europas abzulaufen, gab es zwar bereits ein Jahrhundert zuvor durch die Spanier, doch misslang dem damals regierenden König Philipp II. dieses Vorhaben. Im Gegensatz zum spanischen Scheitern wären die Absichten der Franzosen und Türken jedoch von Erfolg gekrönt, da sie zu diesem Zweck Mittel einsetzen könnten, die alles übersteigen, was bisher an Gewalt und Krieg erlebt worden ist. Die restlichen 17 Kapitel widmen sich - in Form eines an Aristoteles angelehnten Diskurses zwischen einem Deutschen, einem Franzosen und einem Spanier - den möglichen Absichten der beiden expansiv angelegten Mächte und stellen die politisch-diplomatischen, militärischen und finanziellen Möglichkeiten vor, welche die europäischen Länder anstreben sollten, um sich gegen Paris und Konstantinopel zu schützen und eventuell sogar gegen sie vorgehen zu können.
Der Diskurs beginnt mit der Frage, warum es Frankreich gelungen sei, Spanien als erste Macht zurückzudrängen, worauf der Spanier die monarchische und militärische Schwäche, die ungünstige, auseinanderklaffende Lage der spanischen Teilreiche, die finanzielle Erschöpfung des Landes, den Abfall Portugals und der sieben niederländischen Provinzen sowie die ausschließlich auf Eigennutz ausgerichtete Gesinnung der Granden als Ursache nennt. Der Franzose meldet sich daraufhin zu Wort und bekräftigt, dass Frankreichs Stärke nun gefestigt sei, während Spanien mehr einem am Boden liegenden Elefanten ähnelt, der sich aus eigener Kraft nicht mehr erheben kann. Im direkten Vergleich habe Frankreich nie einen solchen Mangel an mutigen und militärisch eingestellten Königen gehabt und er berichtet von Franz I., Heinrich IV., Ludwig XIII. und dessen erstem Minister Richelieu sowie dem augenblicklich herrschenden Ludwig XIV. als herausragende Beispiele. Durch dessen permanente Erfolge wie die Eroberung Straßburgs sei nun sogar der Weg Frankreichs ins Deutsche Reich offen gelegt worden, den es nun ergreifen wolle. Der Deutsche widerspricht, indem er dem Franzosen vorhält, die Möglichkeiten der eigenen Nation zu überschätzen und gleichzeitig das Reich zu unterschätzen. Durch den baldigen Einwand des Spaniers, dass die Erfolge der Franzosen auf Unrechtmäßigkeiten wie Lügen und Bestechungen und nicht auf Tapferkeit ("dass ihr so an Klug= als Dapferkeit allen Nationen zum wenigsten in Europa vorzuziehen wäret") beruhen, zeichnen sich die zwei Fronten ab, die bis zum Ende des Diskurses durchgehalten werden.
Im Folgenden geht das Gespräch unter anderem um die Staatspläne Ludwigs XIV. ("König Heinrich gieng ebenfalls mit dergleichen Anschlaegen schwanger/ wie er des Roemischen Reichs faehig/ und noch der groeste Monarch auf der Welt werden moechte; doch suchte er solches nicht so wohl mit Gewalt/ als andere Staats=Griffe; ... Unserm jetzigen grossen Ludewig aber scheinet das Gluecke viel guenstiger zu seyn/ als ob es ihn zu Ausfuehrung eines so grossen Wercks bestimmt und vorbehalten habe."), mögliche Allianzbildungen der Potentaten, die Interessen der Seemächte England und Holland sowie um das fundamentale Problem der im religiösen Sinne widernatürlichen Kooperation Frankreichs mit dem Erbfeind der Christenheit ("Es ist eine schöne Sache/ und ein schlechter Ruhm/ wann ein Christlicher Potentat mit diesem Feinde der Christenheit ist/ solche vertraeulige Freundschafft/ wo wohl Geheim= und hoechstgefaerliche Buendnuessen wider die Christen/als sein Glaubens-genossen/ machet/ ... und zwar ohne Noth/ sondern bloß aus Ehr= und Laender=Begierde"). Obwohl der Franzose ein etwaiges Bündnis als Märchen und Sage abtut, verteidigt er es im letzten Kapitel als gerechtfertigtes Mittel der Staatsraison, das ebenso wenig ein Unrecht darstelle wie ein Vertrag mit einem Juden. Dieser Vergleich wird von dem Spanier mit dem rigiden Hinweis verworfen, dass es einen Unterschied zwischen einem privaten Vertrag und einem Staatskontrakt gegen die eigenen Glaubenbrüder gäbe. Mit dem Hinweis, dass sicherlich bald ein von Frankreich organisierter Vertrag mit allen Parteien zustande kommen würde, versucht der in die Defensive geratene Franzose die Situation zu beschwichtigen. Schließlich kommt der Deutsche zu dem Resultat, dass den Worten der Franzosen nicht mehr zu trauen sei und sie in Europa künftig nur nach ihren Taten gemessen werden sollten.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Der unbekannte Verfasser versteht Europa sowohl als geographische Einheit, wie auch als christliche Glaubensgemeinschaft ("Christliche Länder"), zu denen neben dem im Blickpunkt stehenden Frankreich das Römische Reich deutscher Nation/Haus Österreich, Spanien, Portugal, England, Holland, Schweden, Dänemark, Polen, Ungarn/Siebenbürgen, Italien und die Schweiz gehören, die alle explizit, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, in den Diskurs der Akteure miteinbezogen werden. Dem gegenüber steht mit dem Osmanischen Reich ein Potentat, der in Folge der vorhergehenden Definition eine Art Zwitterstellung innehat, da er einerseits einen Teil Europas in seiner Macht hat, aber andererseits der traditionelle Gegner des durch die christliche Religion definierten Europas ist.
Dieses klare Feindbild wird nur vom opportunistisch agierenden Frankreich durchbrochen, das "durch seine listige Staats=Griffe und andere zugleich gewaltsame Mittel sich nunmehro in ganz Europa so formidabel gemachet/ dass es nebst dem Tuerkischen Reiche niemand gerne fuerchten/ sondern seine Laender viel weiter ausspannen/ und ... eine grosse Monarchie auffuehren will/ welche dem Römischen Adler seine Hoheit benehmen/ und die Franzoesischen Lilien/ biß an die Sternen erheben soll." Das französische Vorhaben, sich zunächst auf seinen deutschen Nachbarn zu stürzen, um ihn dadurch zwingen zu können, den französischen König als Oberhaupt anzuerkennen oder den Dauphin zum Römischen König zu krönen, betrachtet der Verfasser als umso größeres Vergehen, da sich alle anderen Mächte augenblicklich im Kampf gegen die Türken befänden, um das christliche Europa zu retten. Obwohl sich Ludwig XIV. selbst als allerchristlichen König betitelt, übergeht er aus Gründen der Staatsraison, des Hegemonialstrebens und Ehrgeizes nicht nur die traditionelle Idee der europäischen Christengemeinschaft, sondern wendet sich durch den Abschluss eines (vermuteten) Bündnisses mit Konstantinopel sogar gegen sie.
Das vom Franzosen am Ende des Diskurses vorgebrachte Angebot eines Kontrakts aller verfeindeten christlichen Parteien bringt die Hoffnung des - recht patriotisch eingefärbten - Autors zum Ausdruck, dass man sich in Paris noch auf ein besseres Vorhaben besinnen möge. Durch die negativen Erfahrungen müssen jedoch alle Vorstöße Frankreichs geprüft und langfristig beobachtet werden.
(rf)

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