Anonym [1685] "Potentaten"

Das Kriegs= und Staats=Bekuemmerte Europa/
Worinnen Der Europaeischen Potentaten und Republiquen gegenwaertige Conjuncturen/ dero bey instehendem Feld=Zuge vermuthliches Absehen und grosse Kriegs=Operationes; Sonderlich Was die Kaeyserlichen/ Polen und Venetianer diesen Sommer wider den Tuercken vornehmen und ausrichten werden;
Auch Was Franckreich und Moscau endlich hierbey thun/ und ob andere Cronen laenger in Ruhe sitzen moechten? Nebst vielen Zeitlaeuffigen Curiositaeten vorgestellet.
[s. l.] Gedruckt im 1685sten Jahre.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1685) "Potentaten", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1685-potentaten/

Schlagworte: Christenheit; Frankreich; Klima; Kriegsschauplatz; Nachrichten; Nation; Osmanisches Reich; Regiersucht; Temperament; Weltteil;

Fundort: BSB / 4 J.publ.e. 249

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

"Das Kriegs= und Staats=Bekuemmerte Europa" erweist sich bereits auf den ersten Blick als eine Art aktuelle Nachrichtensammlung, wie sie in ihren zahlreichen Varianten recht typisch für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts ist (vgl. hierzu beispielsweise Martin Meyer [1659]Anonym [1674] "Goetter=Both" oder auch Anonym [1689] "Mercurius"). Dabei handelt es sich im vorliegenden Fall um eine Quelle, die 1685 ohne Angabe des Verfassers, des Verlegers oder des Erscheinungsortes publiziert wurde. Sie umfasst neben dem zweifarbig gestalteten Titelblatt und dem Inhaltsverzeichnis lediglich den 82 Seiten umfassenden Text, der in 15 Kapitel gegliedert wurde und neue Berichte vom Kriegsschauplatz und "Welt=Theil" Europa verspricht. Angemerkt werden muss, dass von der Quelle eine zweite Ausgabe existiert, die in Gestaltung (einfacher Schwarzdruck, fehlende Schmuckkupfer) und Größe (60 Seiten) stark abweicht. Zudem verrät das Deckblatt der zweiten Ausgabe, dass sie im gleichen Jahr vom Verlagshaus Friedrich Lanckisch, das in Leipzig zwischen 1670 und 1763 bestand, gedruckt und vertrieben wurde.
Die Berichte, die der anonyme Urheber seinen Lesern anbietet, sollen Geschehnisse von der iberischen Halbinsel bis zum Moskauer Zarenreich sowie von den italienischen Fürstentümern bis zu den nordischen Königreichen beleuchten. Darüber hinaus besitzen die "Türcken" einen exponierten Stellenwert in der Nachrichtensammlung, da sie seit Jahrhunderten Europa zu erobern versuchen und augenblicklich zum wiederholten Male ein Abwehrkampf gegen das Osmanische Reich tobt. Im Zentrum der Berichterstattung stehen deshalb auch die Vorgänge in Ungarn, das seit der fehlgeschlagenen Belagerung Wiens zum Hauptkriegsschauplatz des Kontinents wurde. Dem Verfasser erscheint es zudem bedeutsam, auch einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, um so den Lesern wichtige Hintergrundinformationen zu liefern, die den meisten von ihnen fremd sein dürften. Betrachtet werden insbesondere das höfische Leben sowie die innenpolitischen Probleme Konstantinopels und dessen schwierige Beziehungen zu anderen asiatischen Völkern wie den Arabern, Armeniern oder Persern. In diesem Kontext stellt er außerdem fest, dass die Lage des Osmanischen Reiches keineswegs sicher sei und die innere Unruhe wachse. Ein wichtiger Grund hierfür sei, dass bei den Türken eine uralte Prophezeiung existiere, die besagt, dass sie durch "alle Europaeer oder Abendlaendischen Voelcker" zerstört werden sollen. Ihre klaren Niederlagen der letzten zwei Jahre könnten in diese Richtung bereits interpretiert werden und so sei es an der Zeit, erneut die Eintracht der europäischen Christenheit mit Nachdruck zu versuchen.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Dass dieses Ziel jedoch nur sehr schwer zu erreichen sei, das erscheint dem Autor evident. So beginnt er mit einer Art Ursachenforschung, indem er die Frage stellt, "was doch die eigentliche Ursache/ daß Europa von Zeiten zu Zeiten in schwere Kriege verwickelt/ und hingegen niemahls eines bestaendigen Friedens versichert sey"? Wohl niemand könne ernsthaft leugnen, "daß Europa von undencklichen Zeiten/ sonderlich aber in diesem noch nicht geendigten Jahrhundert/ der groeste und blutige Schauplatz der Welt gewesen/ worauff so viel grausame Kriege gefuehret/ dadurch nur mehrentheils der Christlichen Potentaten und Republiquen Kraeffte geschwaechet und unter sich selbst auffgerieben werden; die Kriege/ welche in denen anderen Welt=Theilen/ als in Asien/ Africa und America vorgangen/ ob sie wohl an Grausamkeit und Volckstuertzungen die Europaeischen oeffters uebertreffen/ dennoch seynd sie im uebrigen mit denenselben nicht zuvergleichen/ sondern auff gewisse Mase vor Kinderspiel dagegen zuachten/ auch bey weiten nicht so vielfaeltig und langwierig anzutreffen."
Anschließend versucht der Verfasser aufzudecken, warum sich der Krieg - im Gegensatz zu den drei weniger zivilisierten, mitunter kindischen, ja barbarischen Kontinenten - in Europa derart festgesetzt hat: "Dessen aber wollte ich vornehmlich zwey Ursachen anfuehren; die erste ist/ dieweiln Europa und dessen verschiedene Voelckerschafften/ wegen ihres Climatis und Temperaments/ vor allen anderen Nationen/ sonderlich denen in Asia/ Africa/ und dem suedlichen America/ zu einer militaerischen Hitze und Staercke geneigt seyn; Jene Voelcker aber in denen benandten uebrigen Welt=Theilen/ gegen die Europaeer mehrentheils nur als Weiber zuachten. Dieses hitzige Geblueth und militaerische Staercke in denen Europaeern verursachet einen hefftigen Trieb zu gewaltsamen actionen und denen Waffen/ welche ihrer viele entweder in ihren eigen Vaterlande wider sich selbst ergreiffen/ und in ihr Eingeweyde damit wueten/ oder sie muessen einen auswaertigen Feind haben/ an welchem sie das hitzige Blut abkuehlen koennen/ damit ihr eigenes Land von innerlicher Unruhe und Kriegen verschonet werde."
Aufgrund dieser vorgegebenen Konstellation hielten es auch manche Potentaten für eine Staatsmaxime, ihre hitzigen Untertanen in auswärtige Kriege zu schicken, damit sie nicht innerhalb ihres Herrschaftsgebietes Mordtaten begingen oder Aufstände und Revolutionen anstachelten. Dies habe zudem den Vorteil, dass dadurch die Volksmenge nicht allzu stark anwachse und somit ein internes Gleichgewicht gehalten werden könne. Die andere und ausschlaggebendere Ursache für die "stetswaehrenden Kriegs=operationen in Europa ist sonder zweiffel heutiges Tages bey vielen die grosse Regiersucht und unersaettliche Laender=Begierde/ welche iederzeit so wohl bey Christlichen als unchristlichen Potentaten und Herrschafften der groeste Trieb und staerckeste Quelle gewesen/ woraus so viel Krieg und Blutvergiessen entsprungen/ auch gantz Europa dadurch verwirret und beunruhiget worden ist."
Mit vielerlei schönen Vorwänden versuche man dieses Charakteristikum aller Potentaten permanent zu verschleiern, doch stecke hinter all den Ansprüchen und Manifesten immer wieder jene omnipräsente Herrschsucht, von der aktuell jeder Machthaber infiziert sei, auch wenn sich primär zwei Meister der Intrige und Gier ausmachen ließen: Frankreich sowie das Osmanische Reich seien zweifellos die Motoren dieser Entwicklung, wobei es als besonders schlimm anzusehen sei, dass beide Reiche sich aufeinander abstimmten und auf die Mitte Europas, also auf die "Teutsche Nation" abzielten. Den anderen Europäern, die sich jetzt abwartend verhielten, müsste jedoch klar sein, dass "Teutschland" lediglich die erste Bastion in den Expansionsbestrebungen der beiden Mächte darstelle und danach die Niederlande, Italien, Spanien, die Schweiz, schließlich sogar Dänemark und Schweden unterjocht würden. So lange sich an dieser zweiten Grundkonstante nichts fundamental ändere, so lange sei die "Europaeische Nation" vom Krieg bedroht und nur ein punktueller Friedensschluss, wie der von Westfalen (1648) oder Nimwegen (1678), erreichbar: "In solchen unglueckseligen Zustande schwebet bißhero Europa/ indem es bald von Morgen/ bald von Abend eines empfindlichen Streichs sich befahren/ und gleichwohl einen so unruhigen Staats=Uhrwerke seinen Lauff ungehindert lassen/ ja noch dazu die ersinnlichsten Friedens=Bezeugungen erweisen/ oder sich nach dessen arbitrage richten muß."

(rf)

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