Anonym [1685] "Staats=Protocoll"

Raisonables Staats=Protocoll,
Darinnen nach richtiger Ordnung der ietzigen Souverain Heren und gewaffneten Häupter in gantz Europa
Merckwürdige Staats= und Kriegs=Gründe/ heimliches Interesse/ und hierbey weitaußsehenden Kriegs= und Friedens Expeditiones
So wohl mit unpartheyischen Staats=Gründen illustriret, als aus recht politischen Principiis deduciret genugsam zu verwundern seyn werden.
[s. l.] In Vorlegung des Autoris
Gedruckt im 1685 Jahr.

Zitierweise: Josef Köstlbauer: Quellenautopsie "Anonym (1685) Staats=Protocoll", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1685-staatsprotocoll/

Schlagworte: Flugschrift; Gleichgewicht; Ludwig XIV.; Mächtesystem; Staatsraison;

Fundort: ÖNB / 47.Ff.94

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Das "Raisonable Staats=Potocoll" erschien 1685 ohne Angabe von Autor, Verleger und Erscheinungsort. Andere Ausgaben aus dem gleichen Jahr nennen den Leipziger Verleger Christian Weidmann im Titelblatt. Die Quelle umfasst 229 Seiten und enthält außerdem noch einen 32 Seiten starken Anhang (Curieuser Anhang/ und eröffnete Staats=Gedanken/ über den zu Regenspurg und Haag mit Franckreich auffgerichteten Zwantzig=Jährigen Stillstand/ und dann Ober der Käyserlichen Armee in Ungarn und Signoria Venedig auff dem Archipelago wider die Ottomanische Pforte erlangete glückliche Progressen/ Samt etzlicher [...] Secours vor Ofen/ Und dieses Orts denckwürdiger Belägerung., über Progressen der kaiserl. Armee in Ungarn und Venedigs, inkl Beschreibung der Belagerung von Ofen). 1686 erschien auch eine "Continuatio des Raisonablen Staats=Protocolls".
Das vorliegende Werk ist von schlichter Aufmachung, es besitzt weder ein Frontispiz noch eine Widmung, aber immerhin führt der Autor in seinem kurzen, an "den Staats=gesinnten Leser" gerichteten Vorwort einen anonymen Fürsten als Gönner an. Der Inhalt gliedert sich in 32 Kapitel, die auch in einem vorangestellten Inhaltsverzeichnis samt knappen Beschreibungen des jeweils behandelten Themas aufgelistet sind. Allerdings fehlt die Angabe der entsprechenden Seitenzahlen.
Jedes Kapitel ist einer Frage zu aktuellen politischen Entwicklungen gewidmet. Die meist sehr spezifisch formulierten Fragen verbergen aber weit ausholende und tiefgehende Exkurse. Bei der Frage "Warumb der König in Polen nicht persönlich wieder in Ungarn zu Felde gehet", geht der Autor auf die Verfassung Polens ein, erklärt die relative Machtlosigkeit des polnischen Königs und den Einfluss des polnischen Adels ("...wenn man also dessen umbschrenckte Gewalt ansiehet/ so ist er in Wahrheit nicht viel mehr als ein Herzog von Venedig oder Printz von Uranien bey denen vereinigten Niedeländern."). In Kapitel 26 ("Warumb der jetzige Groß=Vezier nicht stranguliret worden/ und von dem bevorstehenden Decrement des ottomanischen Hauses") wird dem Leser die Geschichte des osmanischen Reiches von seiner Gründung über die Eroberung Konstantinopels bis zur Belagerung Wiens dargestellt, bevor er die Gründe für das Überleben des Großwesirs erfährt.
So erweist sich der anonyme Verfasser als wohl informierter und historisch versierter Zeitgenosse. Im Zentrum der meisten Kapitel stehen jedoch die beiden großen politischen Themen der Zeit, einerseits der Kampf gegen das Osmanische Reich und andererseits die französischen Hegemonialbestrebungen. Der Autor sieht Deutschland bedrängt, "auf einer Seiten der Türckische Bluthund/ auff der andern aber das regiersüchtige Franckreich." Die Ursache für die prekäre Situation ist nicht zuletzt die Uneinigkeit der deutschen Fürsten, die nicht Willens sind, Partikularinteressen im Dienste des Reiches zurückzustellen: "Also wird Teutschland wol unüberwindlich bleiben/ und nach genugsamer Züchtigung des türckischen Sultans/ auch Franckreich zum Parn treiben/ wenn es nur unter einander einig/ und nicht selbst seine Kräfte collidiret. Wie denn Franckreich nicht unterlässet/ etlicher malcontenten Printzen Gemüter tapffer aufzuhetzen/ und durch derselben Ruin sein Dessein zu vollenden. Gott helffe/ daß wir lange Frieden behalten/ und meine Conjecturen nicht auf ein blutiges Ende ausschlagen."
Das Problem der vorliegenden Quelle ist, dass sie trotz der detailreichen Ausführungen fragmentarisch bleibt. Es fehlt eine die einzelnen Fragestellungen bündelnde Gesamtschau auf die aktuelle politische Situation.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Der fragmentarische Charakter des "Staats=Protocolls" macht es nicht leicht, Europavorstellungen des Verfassers zu identifizieren. Sein geographisches Europabild ist durchaus umfassend und schließt auch das Osmanische Reich ein. Die Osmanen nehmen durch ihren Glauben, Kultur und militärische Gegnerschaft eine verständliche Sonderrolle ein, aber auch andere Völker, wie etwa die Russen, erscheinen fremdartig. Im Zuge einer Darstellung der Thronstreitigkeiten im Zarenreich beschreibt der Autor die Einwohner folgendermaßen: "Und solches unordentliches Wesen rührt von dem tummen Verstand ihrer Gemüter her/ weil bey ihnen keine grosse Cultur als bey andern europäischen Nations blühet/ und ist Schreiben und lesen der höchste Grad ihrer Studien. Sie sind aufrührisch und grausam/ welches die hefftigen Intriques mit 2. falschen Demetriis sattsam contestiren."
Wie bei zahlreichen zeitgenössischen Schriften tritt in dieser Quelle eine Vorstellung von Europa als System von Mächten zutage - ein System, dessen Gleichgewicht durch die Hegemonialbestrebungen Frankreichs unter Ludwig dem XIV. gefährdet ist. In diesem Zusammenhang schreibt der Autor über Ludwig: "Die Welt kann von zweyen Sonnen nicht bestrahlet werden. der König von Franckreich führet zum Symbolo, eine Sonne mitten unter Planeten stehende/ nebst diesen Beyworten: Nec pluribus impar; massen er denn allein vielen Sonnen gleich geschätzet zu werden verlanget/ und die anderen/ als kleine Planeten/ zu tractiren."
Der Anhang enthält einen Nachruf auf Jan de Witt, in dem dieses Mächtesystem nicht, wie in vielen vergleichbaren Quellen, durch die Beschwörung der notwendigen Einheit der Christenheit, legitimiert wird, sondern durch die Staatsraison, welche die Reichen zwingt, einander gegenseitig in Schach zu halten: "Denn dieser hat ihnen den Weg gezeiget/ wie an ihrer Republique Erhaltung dem ganzen Europa ein merkliches gelegen. Dannenhero er auch/ zu Unterdrückung des Hauses Orange, das meiste contribuiret/ und sie keiner Allance ohne hauptsächlichen Profit beständig anzuhangen/ vermahnet. Wie er denn gar artig Franckreichs/ Spanien und Teutschlandes Raisons d' Etat zu unterscheiden gewußt/ indem alle drey Häuser gerne Holland subjugirten/ jedes aber das andere hieran verhindere."

(jk)

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