Anonym [1686] "Rath=Stube"

Europaeische Rath=Stube/
oder Curiöse Beschreibung des gegenwaertigen Staats von Europa.
Franckfurt und Leipzig zu finden bey Moritz Weidmannen/
gedruckt im 1686sten Jahr.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1686) Rath=Stube", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1686-rathstube/

Schlagworte: Berichterstattung; Christentum; Frankreich; Krieg; Staat; Universalfrieden;

Fundort: BSB / 4 J.publ.e. 205

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Die "Rath=Stube" berichtet von politischen, militärischen, wirtschaftlichen, religiösen und gesellschaftlichen Begebenheiten, die sich seit der Beendigung des Dreißigjährigen Krieges zugetragen haben, wobei die aktuelleren Ereignisse der letzten fünf bis zehn Jahre am stärksten ins Gewicht fallen. Die Quelle umfasst neben dem Titelblatt lediglich die 48 [eigentlich 49] inhaltlichen Kapitel, die teilweise falsch nummeriert und gezählt wurden. Weitere Bestandteile wie ein Inhaltsverzeichnis, Vorwort oder Bildillustrationen fehlen völlig.
Die ersten Kapitel behandeln in allgemeiner Form das Kriegsproblem in Europa, das immer wieder "die Vergiessung des Christen=Bluts zu stillen [habe]", obwohl man mit dem großen Westfälischen Frieden, über den so viele Jahre verhandelt worden war bis er "Anno 1650. zur Execution" kam, einen ebenso dauerhaften wie universalen Frieden beschlossen hat. Als Beispiele folgen kurze Schilderungen zum Ausbruch des "Polnischen Krieges" (1655), des "Devolutionskrieges" (1667), des "Holländischen Krieges" (1672) sowie die mit der Einnahme Straßburgs (1681) einsetzende Reunionspolitik Frankreichs.
Die Franzosen sind nach Meinung des Autors bei der Etablierung des Friedens besonders hinderlich, da er ihrem Ziel, die Universalherrschaft über Europa ("da es doch laengst dahin getrachtet/ seine Lielien über gantz Teutschland/ ja noch viel weiter auszubreite[n]") zu erreichen, im Wege steht. Danach folgen einige Überlegungen und Spekulationen, wie Frankreich aus der gegenwärtigen Lage Kapital schlagen könnte und die mit der Warnung enden, dass man von den Plänen König Ludwigs XIV., der zum Zeitpunkt des christlichen Abwehrkampfes gegen die Türken erneut einen Krieg vorbereitet, nur das Schlimmste zu erwarten hat. Die Mehrzahl der Abschnitte widmet sich nun den Zustandsbeschreibungen der europäischen Fürsten und Republiken, die mit zahlreichen, zum Teil erfundenen Details ausgeschmückt werden. Kürzere Schilderungen zum Geschehen in Afrika (Nordafrika und Mittelmeerraum) und Asien (Ost-Indien, Persien, Japan), die sich durch einen geringen Wahrheitsgehalt auszeichnen und vorrangig Gerüchte, Mutmaßungen sowie Übertreibungen (z. B. Martyrium und Hinrichtung von "etlichen 100000" bekehrten Christen in Japan) wiedergeben, schließen sich im Fall Englands, Hollands und Frankreichs an.
Der zweite Schwerpunkt der Schrift liegt - neben der Betrachtung Frankreichs - in der Zusammenfassung des aktuellen Kriegsgeschehens (1683-1686) in Südost-Europa (Ungarn, Griechenland, Dalmatien), dem mehrere Kapitel gewidmet sind. Die "Rath-Stube" schließt ohne Resümee oder Schlussgedanken mit der Abkürzung "S[oli]. D[eo]. G[loria].".

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Der Verfasser bezeichnet Europa (bereits auf dem Titelblatt) als Staat, auf dessen einzelne Mitglieder er in unterschiedlichem Umfang eingeht. Neben dem im Mittelpunkt stehenden Frankreich Ludwigs XIV. erhält der Leser Informationen zu England, Spanien, Portugal, Holland, den Spanischen Niederlanden, dem Deutschen Reich ("Teutschland"/Österreich), Schweiz, Italien ("Italiaenische Fürsten und Republiquen"), den "Nordischen Cronen in suesser Friedens-Ruhe" Schweden und Dänemark ("Dennemarck"), Polen, Ungarn, Litauen, Russland ("Moscowitten") und dem Osmanischen Reich ("Ottomanisches Reich/Pforte"), welches aber nicht zu den - stets als christlich verstandenen - europäischen Potentaten gezählt wird.
Eine friedliche Einigung aller christlichen Mächte würde "Europa" in seiner Gesamtheit im Abwehrkampf gegen den angreifenden Erbfeind stärken, doch befürchtet der Autor, dass eine solche Entwicklung aus dreierlei Gründen kaum zu erreichen sei. Zum einen werde ein universeller Friedensschluss durch die allgemein weitverbreitete "Regiersucht und unersaettl. Laender=Begierde", die sowohl bei christlichen wie auch unchristlichen Machthabern gleich geartet sei, verhindert und zum anderen schürten "die Martialische Hitze und Staercke/ welche denen Europaeern vor anderen Voelkern [!] eingepflantzet" sei", die Kriegslust an. Schließlich gesellt sich "das gegen einander lauffende Staats=Interesse und Ansprueche der Europaeischen Potentaten und Herrschafften hinzu", die den Frieden permanent unterlaufen und in Frankreich augenblicklich am stärksten vertreten sind. Deswegen müssen "diejenigen immer in Furcht und auff der Hut stehen/ welchen der Frantzoes. Hahn sonst gerne auf den Hals zu springen pfleget".
In diesem Zusammenhang scheint "Teutschland" allgemein - durch seine geographische Mittellage und Nachbarschaft zu Frankreich - sowie explizit - durch die ungeklärte Erbfolge in der Kurpfalz - am stärksten gefährdet. Verschärft wird die Situation aufgrund der Schwäche der traditionell anti-französisch eingestellten Mächte Spanien und Holland sowie der, seit der unerwarteten Thronbesteigung des katholischen Königs Jakob II., gänzlich veränderten Lage in England. Durch diese Konstellationen rückt die Hoffnung des anonymen Schriftstellers auf einen europäischen Universalfrieden in weite Ferne.
(rf)

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