Anonym [1689] "Schriften"

Drey unterschiedene von Mercurio auff dem Parnasso ausgestreuete Schriften/
Als erstlich: Die Beschreibung der vornehmsten Potentaten in Europa, bey Anfang des 1689. Jahres; Zweitens: Ein Glück=Wunschs=Sonnet/ Ihrer Hoheit der Princeßin von Ouranien an ihren Gemahl; Drittens: Die Ursachen/ warum S. König=liche Maj. in Engelland aus dem Reich entwichen.
Haag/ Anno 1689. d. 11. Jan.

Zitierweise: Josef Köstlbauer: Quellenautopsie "Anonym (1689) Schriften", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1689-schriften/

Schlagworte: Allegorie; England; Europa deplorans; Flugschrift; Jakob II.; Sonett; Weltordnung; Wilhelm III. von Oranien;

Fundort: ÖNB / 35.E.257

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Die vorliegende Quelle erscheint 1689 im Haag ohne Angabe des Autors und Verlegers. Das Werk enthält drei voneinander weitgehend unabhängige Texte, die vermutlich ursprünglich in Form von Flugschriften vorlagen und die hier in Buchform publiziert wurden. Es handelt sich dabei um eine Darstellung der europäischen Mächtigen zu Beginn des Jahres 1689, um ein Sonett der Prinzessin von Oranien an ihren nach England eingeschifften Gemahl und um einen Brief Jakobs (James') II. von England, in dem er seine Flucht aus England rechtfertigt. Vorangestellt ist eine Widmung "an das edle Teutschland", die einmal mehr das Thema des durch Uneinigkeit gelähmten "Teutschlands" perpetuiert, das den Ränkespielen seiner Feinde (Frankreich und das Osmanische Reich) ausgeliefert ist. Das einleitende Thema des Gottes Merkur auf dem Parnass verwendet der Autor/Herausgeber, um diese disparaten Inhalte zusammenzubinden. Dabei greift der Autor in bewährter Manier auf den antiken Fundus zurück: Es wird geschildert, wie die drei Schwestern Afrika, Amerika und Asien in ihren Palästen auf dem Parnass "mit guter Ruh und Zufriedenheit" den Jahreswechsel begehen. Die heitere Szene wird gestört durch Geschrei und Tumult, die aus dem Palast der vierten Schwester "Europa" nach außen dringen. Während sich das zusammenströmende Volk noch verwundert nach der Ursache der Unruhe fragt, tritt plötzlich Merkur aus dem Palast, schwingt sich in die Höhe und lässt aus seinem Füllhorn Flugzettel über der Menge niederregnen. Die dann folgenden Texte werden als Abschriften dieser göttlichen Flugschriften angekündigt.

Der erste Text, "Beschreibung der Vornehmsten Potentaten in Europa bey Anfange des 1689sten Jahres", ist eine Aneinanderreihung einfacher, zwei- bis fünfzeiliger Reime unterschiedlicher Struktur, die jeweils einen Fürsten charakterisieren. Nur der erste Reim ist nochmals Europa gewidmet. Die folgenden lassen eine gewisse Ordnung erkennen, denn zuerst kommen Papst und Kaiser, dann die deutschen Fürsten. Erst nach diesen werden die übrigen europäischen Herrscher beschrieben. Etwas überraschend ist der letzte Vers, es handelt sich dabei um eine Schmähung der Madame de Maintenon, mit der Ludwig XIV. nach dem Tod seiner ersten Ehefrau eine morganatische Ehe eingegangen war:

"Der König kunte nichts aus seinen Lenden zwingen:
Das Unvermögen rieß hier alle Hoffnung ein.
Doch Peter kunte bald ein Kind zu wege bringen:
Das mag mir nun mit recht ein Pater Peter seyn."

Diese den engsten Kreis des französischen Königs und damit diesen selbst treffende Lästerung ist aber weniger erstaunlich, wenn man den Grundtenor der übrigen Verse in Betracht zieht. Schon der erste, Europa gewidmete, Reim suggeriert, dass der Kontinent bzw. die europäische Ordnung von Frankreich bedroht wird. Noch dazu setzt der Autor beharrlich das christliche Frankreich mit den muslimischen Osmanen gleich:

"Es werde Ludewig wie Mahmet überwunden:
So wird kein grössrer Nahm/ als Leopolds gefunden."

Dieser Text wurde vor dem Hintergrund der die europäische Politik beherrschenden Rivalität zwischen dem Haus Habsburg und Frankreich verfasst. Der Autor beurteilt die europäischen Mächtigen gemäß ihrer Rolle in dieser Auseinandersetzung. Zum Beispiel lobt der Autor den Herzog von Sachsen, weil dieser den "falschen Hahn" verjagt, während er den Kurfürsten von Brandenburg für seine zögerliche Politik tadelt. Anderen, wie Braunschweig oder Lothringen, wird die Glorie künftiger Siege in Aussicht gestellt. Dem König von Frankreich wirft der Autor vor, dass er an Tugend klein und nur an Laster groß sei. Außerdem warnt der Verfasser den Dauphin, dass er zwar als kühn bekannt ist, aber wie einst Karl der Kühne durch das Schwert umkommen könnte.
Bei den Beschreibungen des ehemaligen englischen Königs und seines Nachfolgers Wilhelm III. von Oranien kommt die konfessionelle Frage ins Spiel. Jakob II. wird vorgeworfen, er habe sein Volk gefressen und sei also von "Drachen=Art/ und nicht ein König". Er hat also seinen Thron zu Recht verloren. Dagegen heißt es über den Prinzen von Oranien:

"Der Vater ist dir lieb; das Reich ist dir noch lieber:
Doch ist die Liebe zu der wahren Lehre drüber."

Dem lässt sich entnehmen, dass der Autor selbst der protestantischen Konfession anhängt und in Wilhelm den protestantischen Helden sieht, der England vor der Gefahr einer katholischen Dynastie gerettet hat.

Der zweite Text entpuppt sich als ein von Maria II. Stuart, Prinzessin von Oranien, verfasstes kurzes Sonett, das an ihren Gatten Wilhelm III. von Oranien, Statthalter der Vereinigten Niederlande, gerichtet ist. Dieser folgte 1688 einer Einladung der englischen Opposition, die Krone des Königreiches anzunehmen. Jakob II. aus dem Hause Stuart hatte diese Entwicklung durch eine unvorsichtige Politik der Katholisierung und monarchischen Restauration provoziert. Verstärkt wurde die Besorgnis der Opposition (Whigs) noch durch die überraschende Geburt eines Thronfolgers. Als Wilhelm von Oranien in England landete, liefen die Armeeführer über und der König floh nach Irland. Pikanterweise war Jakob der Vater von Wilhelms Gemahlin - er wurde also von seinem eigenen Schwiegersohn gestürzt.
Ganz konventionell drückt Maria dem Gatten ihre Sorge und Trauer über seine Abreise aus und ermutigt ihn zum Sieg. Am Schluss spricht sie jedoch die zwiespältige Situation an, in der sie sich als Tochter seines Gegners befindet:

"Wofern man aber auch in Treffen an mich denckt:
Ach so erinnre dich deß Königs Tochter Klage:
Die sich zugleich um Mann und Vater äusserst kränckt!"

Der dritte Text steht mit dem vorangehenden in engem Zusammenhang, denn es handelt sich um eine von Jakob II. verfasste Rechtfertigung seiner Flucht aus England ("Des Königs von Engelland Ursachen/ Warum er sich von Rochester hinweg begeben/ mit seiner eigenen Hand geschrieben."). Schnöde Flucht gereicht einem König nicht zur Ehre und so tut Jakob hier sein äußerstes, die Notwendigkeit dieser Maßnahme plausibel zu machen. Dieses Schriftstück stellt daher nichts anderes als eine Deklaration mit der Intention dar, die Ehre des Monarchen zu salvieren und den Usurpator Wilhelm zurückzuweisen.
Jakob II. erklärt, schon aus der ersten Deklaration seines Gegners sei klar hervor gegangen, dass er von diesem keine Gnade zu gewärtigen habe ("Was habe ich denn von jemanden zu erwarten gehabt/ der mit allerhand Kunststreichen solche Mühe angewendet/ mich so schwartz/ alß die Hölle vor meinen eigenen Volcke/ ja der ganzen Welt zu machen?"). Er sei frei geboren und gedenke es zu bleiben, erklärt der König, versäumt aber nicht, sofort jeden Zweifel an seinem persönlichen Mut zu zerstreuen. Schon mehrmals habe er zu seines "Landes Ehr und Besten" sein Leben aufs Spiel gesetzt und er fügt hinzu, dass er auch bereit sei, dies wieder zu tun, um England aus der "Sclaverey" zu erlösen. Das zielt auf die Vorrangstellung des Protestantismus in England, genauso wie sein Verlangen, dass "die Freyheit der Gewissen vor alle protestantische Disserters accordirt werden möge." Eben diese Forderung der Gewissensfreiheit impliziert die Gleichstellung von Katholizismus und Protestantismus und gerade diese Absicht hatte Jakob die Krone gekostet, denn das protestantische Parlament sah darin den Versuch einer landesweiten Rekatholisierung.
Es konnte nicht eruiert werden, ob die letzten beiden Texte wirklich Maria von Oranien bzw. Jakob II. (oder dem Auftrag von diesen) zuzuschreiben sind. Diese Möglichkeiten sind aber keinesfalls auszuschließen. Jedenfalls zeigen alle drei in diesem Bändchen versammelten Texte sehr schön, in welch vielfältiger Gestalt Nachrichten über aktuelle Ereignisse durch den Buchdruck verbreitet wurden.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Im Titel wie in der auf dem Parnass angesiedelten Handlung der Einleitung tritt eine allegorische "Europa" auf. Es ist eine weibliche Verkörperung des Kontinents, die gleichberechtigt neben den gleich gearteten Bildern Asiens, Afrikas und Amerikas steht. Zwischen diesen vier Schwestern macht der Autor keinerlei hierarchische Unterscheidung, er lässt sie wonnevoll in den ewigen Gefilden des Parnass leben.
Doch bereits der Tumult im Palast der Europa und die ihr gewidmete Strophe des ersten Textes ("Dich hat der Ost bißher mit Schauern angeblasen/ Nun spührestu den West nicht sanffter auf dich rasen") führen zu einem komplexeren Bild. Europa wird zu einem lebendigen Organismus, der unter dem Verlust einer gerechten Ordnung leidet (Europa deplorans). Verursacher dieses Leidens sind die Osmanen und vor allem Frankreich (symbolisiert durch den Ost- bzw. Westwind). Interessant dabei ist, dass das Kaiserreich oder "Teutschland" die gleiche Rolle einnimmt wie diese "Europa". In der Widmung heißt es:

"Weil man dich Teutschland sieht Von deinen Schlaff erwachen/
So führe tapffer aus nunmehro deine Sachen.
Denn schläffert dich noch eins des Hahnes Schreyen ein:
So wird dir solcher Schlaff ein Schlaff des Todes seyn."

Uneinig und unfähig zu handeln sind es vor allem die deutschen Fürstentümer, die unter der gestörten Ordnung leiden. Und das Verhalten des französischen Königs erscheint besonders verwerflich, weil er, als christlicher Herrscher, diese Ordnung verteidigen müsste. Aber er ist "an Lastern groß/ an Tugend [...] klein" und so versagt er sich dieser höheren Verpflichtung.
Der Begriff "Europa" ist in dieser Quelle also nicht allein eine Verkörperung des Kontinents, sondern vielmehr die Manifestation einer idealen, universal christlichen Weltordnung.

(jk)

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