Anonym [1689] "Welt"

Das in der gantzen Welt Und Vornehmlich in Europa sich Außgebreitete Franzoesische Interesse Und die subtile kuenstliche Staats=Griffe mit welchen Franckreich sich bey allen Potentaten/ Fuersten und Republiquen ohne vermerck zu Insinuiren/ und sein eigen Interesse gar Listig zu befordern weiß. Von C. VV. R. S.
Gedruckt zu Veron Im Jahr 1689.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1689) Welt", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1689-welt/

Schlagworte: Frankreich; Gleichgewicht; Ludwig XIV.; Streitschrift; Universalmonarchie; Weltteil;

Fundort: ÖNB / 33.K.98

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Die mit einfachen Mitteln hergestellte Streitschrift wurde ohne Angabe des Verfassers oder des beauftragten Druckers im Jahr 1689 in Verona produziert. Dem Titelblatt ist die Initialenfolge "C.VV.R.S." zu entnehmen, welche in keinem der gängigen Nachschlagewerke aufgeführt wird und sich nicht auflösen lässt. Die Quelle umfasst neben dem Titelblatt einen knapp 120 Seiten langen Text, der sich in neun, nicht nummerierte Kapitel gliedert. Inhaltlich bezieht sich der Autor auf das Verhältnis Frankreichs zu Gesamt-Europa und den wichtigsten europäischen Mächten, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Sein Werk reiht sich damit in eine Vielzahl von Schriften ein, die thematisch mehr oder weniger identisch sind und sich um die hegemonialen Ambitionen Ludwigs XIV. drehen. Aufgrund dessen anhaltend aggressiver Politik nach dem Friedensschluss von Nimwegen (1678) nimmt der anti-französische Pamphletismus in den Achtziger Jahren weiter zu, bevor er während des Pfälzischen Erbfolgekrieges (1688-1697) seinen endgültigen Höhepunkt im 17. Jahrhundert erreicht.
Dabei betrachtet der anonyme Autor in seinen Ausführungen vor allem die Ereignisse der letzten zehn Jahre, die er als ausreichend erachtet, um den wahren "Franzoesischen Geist" korrekt zu schildern: "So vermeinete nun Ludewig der Grosse/ da/ die Stadt Wien belägert war und auff der Spitze ihres Unterganges stund/ bereits den Zepter der Monarchie über Europa in Händen zu haben: als er aber diesen Weg verstopffet sahe/ und den Zugang darzu an dieser Seiten ihm abgeschnitten/ hat er sich wieder zu seiner alten Gewohnheit und Gebrechen gewendet." Dabei schließt der Verfasser nicht nur politische und militärische Fakten in seine Überlegungen ein, sondern weist zunächst auch auf die neuartige, rein ergebnisorientierte Form der Diplomatie Frankreichs hin, die schlicht das Ziel verfolge, ludovizianische Interessen durchzusetzen, ohne dabei auf Schicklichkeit oder Tradition zu achten: "Da habt ihr den Franzoesischen Geist. Er hat sein ratio Status/ der ihm sonderlich wol gluecket. Das ist/ daß er an alle Hoeffe in Europa seine Leute sendet als solche/ die über alle massen durchtrieben und lose sind/ die er sonder Unterscheid auß Burgerlichen/ Militarischen/ und Geistlichen/ als es von nöhten ist/ auszulesen weiß. Aber vor allen/ muessen sie durchtrieben unverschaemt/ verwegen und fertig seyn in vielen Versprechen/ und nicht sie gar genau/ diese und jene Dinge/ die in ehrlichen Gemuehtern billich raum finden solten/ fuer Gewissenhafftig zu achten/ mit einem Wort deutlicher zu Reden/ sie muessen betrieglich und listige Schaelcke seyn." Die Vorwürfe des Verfassers gehen aber noch weiter, bis er schließlich unverblümt die kriminellen Machenschaften anspricht, auf denen sich die bourbonische Reunionspolitik in zweiter Linie stützt: "Franckreich hat noch ein ander grosses Vortheil seine Prætensionen zu formiren durch Personen die in Pariß gefunden werden/ welche sehr behände die alten Gothischen Buchstaben/ die vor fünff oder sechshundert Jahren gebraeuchlich/ nachzumachen wissen/ dass man warlich glauben solte/ daß sie von solcher Zeit her wären/ und mit diesen fabriciret man eine Dependentz/ die man so weit und auff sothane lange Zeit ziehet/ daß der Teufel selber/ wie alt und schlimm er auch ist/ nichts solte darwieder sagen koennen."
Darüber hinaus spricht er die Heiratspolitik des Versailler Hofes an, die für ihn die dritte Säule der permanenten Expansionspolitik darstellt und ebenfalls nur dem Ziel dient, alle strategisch bedeutsamen Höfe Europas an Ludwig XIV. zu fesseln. Dessen innigster Wunsch, "Ober=Monarch von gantz Europa" zu werden, werde sich unweigerlich erfüllen, wenn sich ihm das restliche Europa nicht entschieden entgegen stellt. Der anonyme Autor wendet sich deshalb an den Papst und die Römische Kurie, Kaiser, Kur- und Reichsfürsten, Spanien, England, die Vereinigten Niederlande, die nordischen Könige und Fürsten, die Schweizer Bundesgenossen sowie an den Herzog von Savoyen, um ihnen und den Lesern die prekäre Lage vor Augen zu führen. In diesem Zusammenhang spielt die Religions- bzw. die Konfessionsfrage ("Ludewig der XIV ist nichts weniger als Catholisch.") eine nicht unbedeutende Rolle, da der Verfasser sie gegen Ende der Schrift ausdrücklich anführt, um die Eigennützigkeit und Ruhmsucht des Bourbonenkönigs noch einmal zu unterstreichen und den Zusammenhalt aller Mächte - über Bekenntnisfragen hinweg - zu forcieren.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Der Verfasser setzt die Herrschaft über Europa mit der Weltherrschaft gleich. Mit dem Begriff "Europa" ist dabei nicht nur der Kontinent, sondern gleichzeitig auch die Summe aller seiner Monarchien, Fürstentümer und Republiken gemeint, die eng miteinander verflochten sind und eine Art Schicksalsgemeinschaft bilden. Ein charakteristisches Merkmal Europas liegt in seiner machtpolitischen Balance, die allerdings sowohl in der Vergangenheit, wie auch in der Gegenwart durch die Ambitionen einzelner Staaten immer wieder in Frage gestellt wird. Spanien belegte lange Zeit die Spitzenposition im Kreis der europäischer Potentaten, bevor es gegen Mitte des 17. Jahrhunderts endgültig vom aufstrebenden Frankreich, seinem permanenten Widersacher, abgelöst ("Von dem Roemischen Reich wende ich mich nach Spanien/ welches eine geraume Zeit Europam mit Franckreich in zwey Theile getheilet hat/ und zu welchen die andern Fuersten entweder alle oder nicht gehalten haben/ nach dem es ihre Interessen erfordert. Doch haben die meisten in dem Stueck sich zu den schwaechsten/ selbigen zu unterstuetzen gehalten/ eine Gleichheit beyden allewege zu bewahren. Weil der Herr Sully zu Heinrich dem IV. wegen der Streitigkeiten die er mit Spanien hatte in seinen Schreiben sagt/ das aller Anwachs des einen auß der Verkleinerung des andern entstehe.") wurde. Nun droht der ehemalige Gegenpol Frankreich aber derart mächtig zu werden, dass die Gefahr einer Universalmonarchie, d. h. die direkte und indirekte Machtausübung eines Staatsoberhauptes über ganz Europa, erneut gegeben ist. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, muss jetzt die Bündelung aller maßgeblichen Rest-Staaten vorangetrieben werden, wobei aufgrund der erneuten Kriegssituation eine außergewöhnliche Eile geboten scheint: "Es ist heute nicht erst/ daß Franckreich mit der Begierde eines andern Oerter sich zu bemaechtigen/ und sein Gebiet von einem Ende Europæ biß zum andern außzubreiten geplaget wird."
Von ausschlaggebender Bedeutung sind eine einheitliche und starke Haltung von Kaiser und Reich, die Sicherung der Vereinigten Niederlande, in denen der Verfasser das wichtigste Bollwerk (niederländisches Kapital) gegen die Pläne Ludwigs XIV. sieht, sowie das anti-französische Engagement Londons, das als Garant für ein ausgeglichenes Mächteverhältnis steht. Deswegen läge dem französischen König auch ganz entschieden an der Neutralität Englands, das seit der Herrschaft Heinrichs VIII. die Position eines europäischen Schiedsrichters innehat und sich derzeit noch immer in unverantwortlicher Weise und "mit guten Augen das Trauer=Spiel/ das Franckreich auff dem Schau=Platz von Europa spielet/ ansiehet/ [...]." So sei es "gewiß/ dass fast niemand ist/ der Europa besser von den Banden der Frantzoesischen Dienstbarkeit erloesen kann/ als eben dises Engeland." Neben diesen drei hauptsächlichen, als jeweilige Einheit (Kaiser, Kur- und Reichsfürsten) zu verstehenden Gegenspielern Frankreichs werden der Papst, Spanien, die skandinavischen Königreiche, die Schweiz und das Herzogtum Savoyen aufgerufen, einem anti-französischen Bündnis, wie es realpolitisch mit der Bildung der "Großen Allianz" (1689/90) umgesetzt wurde, beizutreten. Andere potentielle Partner bleiben dahingegen ausgespart.

(rf)

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