Anonym [1690] "Herold"

Der Entlarvte Franzoesische Herold
dem ganzen Europa Mit lebendigen Farben ab=gemahlet Und Zu beschauen vorgestellet.
[s. l.] Im Jahr Christi 1690.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (1690) Herold", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1690-herold/

Schlagworte: Frankreich; Krieg; Propaganda; Reunionen;

Fundort: BSB / J.publ.e. 170 m

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Die Propagandaschrift, die sich gegen die französische Hegemonialpolitik wendet, entsteht wahrscheinlich kurz nach dem Ausbruch des Pfälzischen Erbfolgekrieges und wird im Jahr 1690 anonym und ohne Angabe eines Druckortes veröffentlicht. Die Urheberschaft kann auch anhand diverser Anonymen-Lexika nicht geklärt werden, da das vorliegende Buch in keinem Nachschlagewerk verzeichnet ist. Abgesehen von einem dreiseitigen Vorwort, das den Leser ("Freundlicher Leser!") direkt anspricht, enthält der Duodezband weder ein Inhaltsverzeichnis noch Kapitel und ist fortlaufend verfasst. Ein als Frontispiz dienender Kupferstich zeigt einen in zeitgenössischer Kleidung dargestellten Reiter mit Heroldsstab, der von dem fliegenden (Reichs-)Adler demaskiert wird. Die Maske, die von einem Cäsarenlorbeer bekrönt wird, weist im Gegensatz zu dem Gesicht des Reiters, das eine ernste Entschlossenheit ausstrahlt, freundliche Züge auf. Darüber hinaus hält der hämisch blickende Vogel ein Banner, das den Titel der Schrift noch einmal wiederholt.
In dem kurz gehaltenen Vorwort erklärt der Autor, dass der Leser "einige scharffe Wort wider Franckreich hierinnen lesen wird" und "dass hierzu die Franzosen selbst die einzige Ursach gegeben/ als welche auch wider uns sich bißhero sehr unverschaemt erzeiget." Daher sei es an der Zeit, verschiedene Tatsachen aufzudecken und ihre Zusammenhänge zu enthüllen, wie es das "Vergeltungs=Recht" vorsieht. Die Figur des Herolds sei deshalb gewählt worden, weil "das Herolden-Ampt bey den Roemern in grossem Ansehen/ und zur Verwaltung des Voelcker=Rechts angeordnet ware. Bey den vornehmsten Gebraeuchen der Voelcker wurden sie hauptsächlich gebrauchet/ und entweder etwas wieder zu fordern und einzunehmen/ item den Krieg anzukuendigen/ bey Buendnuessen und Vertraegen sich finden zu lassen angewendet/ und deßwegen vor uralten Zeiten mit gewissen Gebraeuchen und Kennzeichen versehen." Bei den Franzosen entarte jedoch dieses ehrenvolle, traditionell angesehene Amt, da der "Frantzösische Herold/ zu einer solchen Zeit/ die gleichsam mit ungeheuern Dingen Schwanger gehet/ nun erst mit Schein=gelehrten un[d] verderblichen Vernunffts=Gründen auf gezogen kaeme."
Die missbrauchte Heroldsfigur steht für den Verfasser repräsentativ für alle listigen Aktionen, Taktiken und Vorwände Frankreichs. Sie dienen in der Summe nur dem Ziel, die französische Monarchie über alle (vornehmlich europäischen) Völker auszudehnen. Dabei betont er, dass es ihm nicht um eine Diffamierung gehe, sondern vielmehr darum, "dem verstellten Herold die Larve ab[zu]ziehen" und "das Kind/ [...] mit seinem rechten Namen [zu] tauffen". Deshalb soll "die verstaendige Welt", die nicht "nach den boshafftigen Schmeichel-Worten fraget/ sondern alles nach der wahren Vernunfft urtheilet/ und derselben folgen wird", über seine Worte richten. Diesen Ausführungen schließt sich eine breite historische Abhandlung an, die u. a. das entgegengesetzte Wesen von Deutschen (sanft, aufrichtig, friedlich) und Franzosen (eitel, verlogen, hinterlistig) beleuchten, ihre unterschiedliche Entwicklung seit den Tagen Karls des Großen aufzeigen und den aktuellen, lasterhaften Geist des ludovizianischen Frankreichs erklären soll.
Den Schwerpunkt der Ausführungen bildet der sich ständig verschärfende Dualismus zwischen dem Heiligen Römischen Reich und Frankreich seit dem frühen 16. Jahrhundert, wobei in den Augen des Autors die europäischen Vereinigungspläne Sullis unter Heinrich IV., die janusgesichtige Politik Ludwigs XIII. und seiner Kardinäle Richelieu und Mazarin, der Krieg Frankreichs gegen die Vereinigten Niederlande, die rechtswidrigen Reunionen Ludwigs XIV. sowie dessen Pakt mit dem Osmanischen Reich besonders perfide Beispiele der Politik Frankreichs darstellen. Dieser Auswahl folgen weitere Abhandlungen zum Rechtssystem sowie zur Außen- und Kriegspolitik Frankreichs unter Berücksichtigung seiner Beziehungen zum Kirchenstaat. Die Propagandaschrift endet mit einem Aufruf zum Krieg gegen Frankreich, um eine endgültige Entscheidung zugunsten der Freiheit und damit gegen die sonst drohende Fremdherrschaft und Knechtschaft herbeizuführen.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Alle Aktionen Frankreichs seit dem frühen 16. Jahrhundert zielen nach den Ausführungen des Autors nur auf ein Ergebnis ab, nämlich die Errichtung einer "Universal-Monarchie" über alle anderen Völker in Europa ("das Europaeische Reich"). Die Mittel, derer es sich als christlich-europäische Nation ("eine Nation unter den Unserigen") bedient, verstoßen dabei gegen sämtliche tradierten Gebote und laufen der Vernunft entgegen. In diesem Zusammenhang greift der Verfasser mehrmals auf die Metapher vom Körper Europas zurück, wenn er u. a. darauf aufmerksam macht, dass man in Frankreich überzeugt sei, "deswegen von der Natur gleichsam in das Eingeweid des Christlichen Erdkreises gesetzet [zu sein]", um sich mit Hilfe von "Krieg/ Mord/ Brand/ Verheerung und Dienstbarkeit" immer mehr seiner benachbarten Teile in den "Franzoesischen Coerper" einzuverleiben.
Das "Teutsche Reich" bildet das eigentliche Haupthindernis auf dem Weg Frankreichs zur europäischen Monarchie bzw. Alleinherrschaft. Bereits die Vereinigungspläne Sullis unter Heinrich IV. zu einer "Christlichen Republik Europa" und deren Einteilung in 15 Systhemata bildeten lediglich eine List, um das Heilige Römische Reich seiner reichsten und schönsten Teile zu berauben und es auf diese Weise zu schwächen. Schon damals hätte man in Paris mit dem Vorwand "der Christlichen Eintraechtigkeit und dem Europaeischen Nutzen zu lieb" argumentiert und den äußeren Glanz dafür eingesetzt, um andere Länder zu täuschen. Sollte es Frankreich tatsächlich gelingen, sich das "Teutsche Reich" zu eigen zu machen, werde es nachfolgend mit der Schweiz, den Niederlanden und ganz Italien ("Reunions-Seuche") ebenso verfahren, um dadurch wieder die Größe des Fränkischen Reiches aus dem 9. Jahrhundert zu erreichen, als dessen legitimer Nachfolger es sich betrachtet. Alle anderen europäischen Länder (Spanien, Ungarn/Siebenbürgen, Polen, Dänemark, Schweden, Britisches Inselreich) würden nach diesen "Reunionen" auf den Stand von "Dependentien" herabsinken, so dass Europa - und damit dem gesamten Erdreich - das französische Joch gewiss wäre.
Mit dieser Argumentation zeigt sich für den Verfasser das Dilemma der gegenwärtigen Situation, denn der Fall des "Teutschen Reiches" bedeutet gleichsam den Fall "Europas" und der Welt. Als einzig mögliche Lösung erscheint ihm eine Art Entscheidungskrieg gegen Frankreich, zu dem er am Ende der Schrift aufruft. Nur auf diese Weise kann "Europa" vor den Absichten der Franzosen geschützt und eine Vereinigung unter französischem Vorzeichen verhindert werden.

(rf)

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