Anonym [1691] "Staats=Zimmer"

Neueröffnetes Staats=Zimmer, Worinnen Aller Potentaten und Republiquen in Europa theils auch in Asia/ gegenwärtige Alliantzen/ Conjuncturen/ Staats= und Kriegs=Affairen/ ungleiches Interesse, weitaussehende Desseins und Armaturen/ Praetensionen/ Mariagen/ Staats=Maximes und Frantzösische Intriquen/ sampt andern notablen Particularitäten/ in vielen Curiösen Fragen/ zur Conversation und Discurs nöthig und nützlich vorgestellet werden
[s. l.] Anno 1691.

Zitierweise: Josef Köstlbauer: Quellenautopsie "Anonym (1691) Staats=Zimmer", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1691-staatszimmer/

Schlagworte: Diskurs; Mächtesystem; Religion; Universalmonarchie; Weltteil;

Fundort: ÖNB / BE.7.X.61

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Die vorliegende Schrift erschien ohne Angabe von Autor, Verlag und Druckort im Jahr 1691. Das Exemplar der Österreichischen Nationalbibliothek enthält auch einen umfangreichen Anhang zum ersten Teil ("Nützlicher Anhang des Neueröffneten Staats=Zimmers/ Worinnen die bißhero vorgelauffenen wichtigsten Staats=Affairen in Europa/ sonderlich die grosse Conferenz der Hohen Alliierten im Haag [...]") sowie den 1692 veröffentlichten dritten Teil des "Neueröffneten Staats=Zimmers". Der Katalog der ÖNB verzeichnet fälschlich Teil 1-3 des "Staats=Zimmers" unter dieser Signatur. Allerdings weist dieser Band Fehler auf, die den Leser durchaus verwirren können: Die Reihenfolge der Texte wurde völlig vertauscht, um die Verwirrung aber komplett zu machen, sind Titelblätter und Inhaltsverzeichnis an der richtigen Stelle. D.h. am Beginn des Werkes trifft der Leser auf Titelblatt und Inhaltsverzeichnis zu Teil 1, auf diese folgt dann aber der Textteil des 1692 erschienen dritten Teils des "Staats=Zimmers". Als nächstes findet sich das Titelblatt des Anhangs zu Teil 1, das aber fälschlicherweise vom Haupttext des ersten Teils gefolgt wird. Schließlich schlägt man endlich die Titelseite von Teil 3 auf und kann dann den Text des Anhangs zum ersten Teil lesen.
Der hier behandelte erste Teil des "Staats=Zimmers" umfasst inklusive Anhang 530 Seiten, er gliedert sich in Inhaltsverzeichnis, Hauptteil und Anhang. Die Aufmachung ist schmucklos und weist weder Frontispiz noch Abbildungen auf. Das Inhaltsverzeichnis ("Derer vornehmsten Materien und Haupt=Fragen/ so in diesem Buch enthalten.") ist sehr umfangreich und enthält neben den Kapitelüberschriften und Seitenzahlen auch eine kurze Charakterisierung der jeweils behandelten Themen. Der Hauptteil seinerseits ist in 116 Kapitel unterteilt, der Anhang umfasst 27 weitere Kapitel.
Wie schon der Titel sagt, behandelt das "Neueröffnete Staats=Zimmer" die politische Situation in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis ins Jahr 1690. Jedes Kapitel behandelt eine bestimmte politische Thematik, wobei jeweils in Form eines Diskurses verschiedene Fragen aufgeworfen und anschließend beantwortet werden. Die ersten beiden Kapitel ergeben eine Einführung in die europäische Gesamtsituation der Zeit. Im ersten wird versucht, die Gründe für die Europa ständig bedrückenden Kriege zu definieren, während das zweite eine Aufzählung eben dieser Konflikte bietet ("Was seyn dann in diesem Seculo [...] vor denckwürdige Kriege durch Europa geführet worden?").
Die weiteren Kapitel folgen einer geographischen Systematik, Kapitel 3 bis 27 sind der politischen Situation in England gewidmet, dann kommt Spanien an die Reihe, schließlich Holland, Venedig, Polen, Russland, Ungarn. Erst in den letzten Kapiteln folgt die Ordnung größeren politischen Themen, wie dem Krieg gegen Frankreich, internen Problemen des Habsburgerreiches, den Positionen Englands, Hollands, Schwedens und Dänemarks in Bezug auf Frankreich oder der Frage nach den Auswirkungen des Konfliktes zwischen Osmanen und dem persischen Safawidenreich auf die Situation in Europa.
Innerhalb der thematischen Bereiche entwickeln sich die Kapitel/Diskurse zu politisch-historischen Abrissen, die den Lesern einen sehr umfassenden Einblick in die Hintergründe aktueller politischer Verhältnisse eröffneten. Im Falle Englands behandelt er sowohl den unglücklichen Karl I., die Regierungszeit Cromwells, als auch die Politik Karls II. und Jakobs II., bevor er zu den jüngsten Ereignissen, nämlich der Vertreibung Jakobs II. durch Wilhelm III. von Oranien kommt und den daraus folgenden Verschiebungen im Verhältnis Englands zu Frankreich.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Der Schlüssel zur Europavorstellung des Verfassers ist das erste Kapitel, schon sein Titel lässt einige Rückschlüsse zu: "Die eigentliche Ursache/ daß Europa/ welches sich gleichwohl mit seinen Regenten/ vor denen andern Welt=Theilen/ der besten Religion und durchgehenden Christenthums rühmet/ dennoch zu keiner zeit/ zumahl in diesem Seculo, eines beständigen Friedens geniessen können/ sondern aus einem Kriege in den andern verfallen müssen?" Europa ist also Hort des Christentums und damit der beste unter den Weltteilen.
Diese Annahme europäischer Überlegenheit gegenüber dem Rest der Welt stellt sozusagen ein nach außen gerichtetes Europabild dar, während sich in dem Topos der europäischen/christlichen Uneinigkeit eine "innere" Europavorstellung manifestiert, die vom Antagonismus und Ehrgeiz der Fürsten und Reiche bestimmt ist: "Die grosse und unersättliche Regiersucht/ welche nicht nur die Mächtigsten in Europa/ sondern auch zuweilen die ohnmächtigsten dergestalt eingenommen/ daß sie gantz Europa zum öfftern/ um ihre Familien zu vergrössern und dero Herrschafft zu erweitern/ verunruhiget/ und zu einem blutigen Schauplatze gemacht haben."
Der Autor findet auf die Frage nach dem Grund für den Unfrieden in Europa drei Antworten. Zum Einen macht er (s.o.) die "Regiersucht" der Herrschenden verantwortlich. Als Beleg führt er zuerst Spanien an, welches durch seine Herrschsucht schließlich selbst zu Fall gekommen ist: "[...] das melancholische und mit der fünfften Monarchie schwangere Spanien/ welches theils durch grausame und gewaltsame/ theils arglistige Mittel so viel Christenblut vergossen/ um seine monarchalische Geburth ans Licht zu bringen/ worüber es aber bald selbst ersticket/ ja dermassen bey solcher seiner Mißgeburth entkräfftet und ohnmächtig worden/ daß es nunmehro einem schwindsüchtigen Cörper zu vergleichen ist. [...]"
Von Spanien zieht er die nahe liegende Parallele zu Frankreich: "Nach ihme hat der räudige Frantzösische Hahn/ ungeachtet des vor Augen schwebenden spanischen Exempels/ bey zunehmenden Vermögen und Glückseligkeit/ eben solche monarchische Sprünge unterfangen. Und eben dieser ist von vielen hundert Jahren der rechte Unglücks=Vogel in gantz Europa gewesen/ welcher fast niemahls auff seinem eigenen Miste vergnügt und ruhig bleiben können/sondern bald hinüber nach Spanien/ bald nach Italien/ bald in die vereinigte/ oder auch spanische Niederlande/ ja auch in das Römische Reich mit seinem Anhang geflogen/ und dieser Länder/ welche gerne Frieden gehalten/ mit seinem Blutgierigen Kriegs=Geschrey nicht nur verunruhiget/ sondern daneben in den grössten Ruin gestürtzet hat/ bloß zu dem Ende/ damit er seine vermaledeyete Herrschsucht sättigen möchte."
Die Verdammung der "monarchischen Sprünge" weist auf die Idealvorstellung von Europa als Republik der Reiche oder Fürsten hin, die aber durch die Versuche Einzelner (Spanien, Frankreich), sich über die Anderen zu erheben und eine Universalmonarchie zu errichten, unverwirklicht bleibt.
Zum Zweiten macht der Autor die konfessionelle Spaltung für den traurigen Zustand Europas verantwortlich, wobei er vorsichtig jede konkrete Schuldzuweisung oder jedes Bekenntnis vermeidet, sondern allgemein die politische Instrumentalisierung der Religion kritisiert: "[...] das daraus erfolgte Mißtrauen und unversöhnliche Widerwärtigkeit; massen der eine theil/ unter dem Deckmantel der Religion/ den Verlust der zeitlichen Güter nicht verschmertzen/ und die Fleisch=Töpffe Aegyti vergessen können oder wollen; dannenhero das Christliche Europa vielmahls zerrüttet und mit seinem eignen Blute schändlich besudelt worden; und gleichwol wolt ein jeder ein Christlicher/ das ist/ Friedliebender Regente heissen."
Zum Dritten spricht der Autor von der "Veränderung derer hohen Familien und Herrschafften" welche "keine geringe Ursache so vieler Kriege in Europa gewesen/ dessen uns Franckreich Spanien/ Portugal/ Italien/ Schweden und Pohlen/ sonderlich auch das Röm. Reich wegen der Jülischen u. a. Länder hochbeträchtliche und zugleich schädliche Exempel vorstellen können [...]."

(jk)

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