Arbitrium Europae Suecicum, Oder Statistischer Beweißthum/ Daß die Cron Schweden das Glorwürdige und hochnutzliche Arbitrium Europae nimmermehr aus Händen lassen; sondern immerdar durch das Mediations-Werck die Machten in Ballantz halten solle. Sampt Der kurtzen aber eigentlichen Beschreibung der Lands=Art/ der Regierung/ deß Vermögens/ der Provinzen Eintheilung/ Situation, der Völckern Sitten/ und deren vor 300. Jahren her zwischen den Nordischen Cronen geführten Kriegen.
[s. l.] Gedruckt in disem Jahr/ 1699.
Zitierweise: Alexander Wilckens: Quellenautopsie "Anonym (1699) Arbitrium", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1699-arbitrium/
Schlagworte: Dänemark; Flugschrift; Gleichgewicht; Krieg; Schweden; Vermittlung;
Fundort: ÖNB / 79.Cc.350
A) Kurzbiographie | B) Beschreibung der Quelle | C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers |
[Anonymer Verfasser]
Die vorliegende Flugschrift ist ein Plädoyer für Schwedens Rolle als Vermittler und Schlichter im europäischen Machtgefüge, die es zum Wohlstand des Königreiches zu erhalten gilt. Die Quelle wurde Anfang 1699 verfasst und ohne eine Angabe des Druckortes anonym veröffentlicht. Sie umfasst 68 unnummerierte Seiten im 4° Format und enthält am Anfang eine einseitige "Vor=Ansprach An Den wolgeneigten Leser" und zum Schluss ein "Reflexions-Schreiben Eines fürnehmen Hof= und Staats=Manns an einen guten Freund/ über die obhanden schwebende Strittigkeiten der Nordischen Cronen". Der Text der Flugschrift ist fortlaufend verfasst und enthält keinerlei Illustrationen.
In der einleitenden "Vor=Ansprach" wird das Thema der Flugschrift kurz angesprochen, nämlich Schweden "in Statu quo [zu] betrachten/ und aus vernünfftigen Staats Gründen gantz kurtz/ jedoch deutlich genug [zu] beweisen/ wie die Cron von Schweden nicht sicherer und glorioser ihr Reich beherrschen könne/ als im Besitz deß Glorwürdigen Mediations-Werck". Der inhaltliche Teil beginnt mit der Feststellung, dass ein Monarch oder Potentat, der als Mittler oder Schiedsmann zwischen streitenden Parteien agiert, niemals ohne Vorteil bleibt und ein hohes Ansehen genießt. Die Erfahrung habe davon Zeugnis gegeben, wie vorteilhaft für die schwedische Krone "die Bemittelung oder das Arbitrium gewesen seye/ solang sie solches behalten". Ganz Europa habe große Hochachtung "auf die Staats-Insichten diser Cron" gezeigt und ihre Freundschaft gesucht. Doch sobald, während der Minderjährigkeit Karls XI., "das Ministerium sich durch die Französischen Promessen und Louisen liesse bereden/ von dem Arbitrio abzutretten/ und in favorem von Franckreich sich wider das Reich partialisch zu erzeigen/ verschertzte die Cron dero hohe Authorität/ und stache in ein Hornußen Nest/ aus welchem ihr so vil Feinde auf den Hals folgen/ die derselben beinahe den Garaus gemacht hätten". Um zu erklären, wie es zu dieser Situation gekommen ist und um für die Wiederaufnahme der Vermittlerrolle zu plädieren, schreibt der Verfasser fortan "compendios" über drei Sachthemen: "1. Von dem Königreich Schweden und Dähnemarck/ dero Regierung/Vermögen/ Eintheilung/ und Sitten &c. 2. Von den 13. seit ungefehr 300. Jahren her zwischen disen beyden Cronen entstandenen Kriegen. 3. Von der Widergenesung der Cron Schweden/ und dem wider reassumierten Arbitrio, als Staats=Angel von Norden".
Gemäß dieser Einteilung fasst er zuerst die allgemeinen Merkmale der Königreiche Schweden und Dänemark zusammen. Schweden sei die ältere der beiden Nationen, sehr "bellicos" und fast jederzeit die "formidabelste" gewesen, während Dänemark reicher an natürlichen Ressourcen sei. Es folgt eine kurze Beschreibung der politischen und sozialen Strukturen, der Geographie und Hauptressourcen sowie der Sitten der jeweiligen Stände. Nach diesen, eher zur ersten Orientierung für den mit den nordischen Königreichen scheinbar wenig vertrauten deutschsprachigen Leser anmutenden Ausführungen, geht der Verfasser zur Geschichte der zwischen beiden Königreichen geführten Kriege über. Zwischen beiden Nationen bestehe nämlich eine "stetswehrende Feindschaft und natürliche Antipathie", die sich im Wettkampf um die Herrschaft in Norwegen, Schonen und anderen nördlichen Provinzen ausdrückte. Der Autor geht bis zum Jahr 1276 zurück, als Magnus statt seines Bruders, des Königs Erich von Dänemark, in Schweden zum König angenommen und gekrönt wurde. Die 13 Kriege, die bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit wechselseitigem Glück geführt wurden, werden hauptsächlich anhand ihrer dynastischen Nachfolgen und Krisen geschildert. Der Urheber, der aus schwedischer Sicht schreibt, entwirft dabei ein detailreiches Panorama der Herrscher- und Kriegsgeschichte. Die Beziehungen zwischen Schweden und Dänemark werden aber sehr isoliert betrachtet, ohne die Einflüsse und Entwicklungen anderer europäischer Länder zu integrieren. Die Perspektive weitet sich erst im 16. Jahrhundert nach dem Ende der Kalmarer Union etwas aus, als die dynastischen Beziehungen Dänemarks zu Karl V. wichtig wurden. Eine weitere Intensivierung der Sichtweise tritt erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts ein, als mit König Sigismund Polen zu einem wichtigen Aspekt der schwedischen Kriegsgeschichte wird. Dennoch bleibt die Schilderung der Ereignisse eng an Schweden und Dänemark gebunden. Die Kriegsereignisse der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, darunter auch das Eingreifen Gustav-Adolfs im Reich, werden hauptsächlich auf der bilateralen Ebene behandelt. Der Westfälische Friede, der im späteren Verlauf der Flugschrift ein wichtiger Referenzpunkt ist, wird zunächst flüchtig erwähnt und an das Jahr 1649 festgemacht. Erst die Kriege nach der Jahrhundertmitte werden fundierter behandelt.
Die glorreiche Stellung Schwedens, die vor allem unter Karl X. Gustav erreicht wurde, ging ab 1668 verloren. 1668 habe sich Schweden zu einem Bündnis mit England und Holland zugunsten Spaniens bereit erklärt, doch wenig später ließen sich die schwedischen Minister durch das französische Geld blenden und schlossen mit Frankreich eine Defensiv-Allianz, "durch welche die zuvor hoch=berüchtete Tripel-Alliantz zertrennet/ und der Zunder zu einem grossen Kriegs=Feuer bereitet ward". Dieser große "Staats=Fehltritt" bedeutete, dass Schweden "aus dem Weg der alten Glorie und deß Europäischen Arbitrij jrre gegangen ist". Die Verwicklungen im Niederländisch-Französischen Krieg und im Pfälzischen Erbfolgekrieg, die der Verfasser aus schwedischer Sicht als einen einzigen, von 1675 (Niederlage bei Fehrbellin) bis 1699 dauernden Krieg versteht, zeigen, wie aus dieser "Staats=Ungereimtheit/ in Verlassung der heilsamen Mediation" noch weitere "Absurditäten" entsprungen seien. Schweden habe den Kaiser und das Römische Reich irritiert und die Feindschaft des ganzen Reichs auf sich gezogen, Holland und Dänemark zum Krieg veranlasst und den "Vortheil der Commercien", die es durch "Mediation" und Neutralität hätte führen und genießen können, verscherzt, seine Kriegsflotte "und die herrliche See=Equippagie" zu Grunde gerichtet und somit "das Glorwürdige Ansehen auf der Oost=See" ruiniert, alle "über Meer liegende Provintzen, insonderheit Pommern und Schonen gantz verderbt", seine Finanzen erschöpft und "sehen lassen/ daß sie in Führung der Kriegen nicht so wol auf die Religion als Region Achtung geben/ indeme sie Franckreich wider die Evangelischen Reichs=Glieder favorisiert hat/ in welchem sie ein grosses versehen", dann noch die deutsche Hilfe an Volk, um außer Lande Krieg führen zu können, verloren, und schließlich die "Authoritativ[e] Glorwürdig[e] Intention" aufgegeben, "vor allen Dingen den zu Münster=Oßnabrügge geschlossenen Frieden zu schützen/ und die Evangelische Religion zu handhaben".
Der Autor kommentiert noch weitere Schäden, die aus der "Alienation von der Mediation in favorem von Franckreich" resultierten, doch aus seiner Argumentationsweise ist nicht klar ersichtlich, ob er sich auf den Frieden von Nimwegen oder von Rijswijk bezieht, die beide ungenannt bleiben. Zum Schluss meint der Autor, dass Schweden aus allen erlittenen Schäden folgende "Staats=Insicht und Grund=Regulen ersehen" habe: "1. Insonderheit auf die Handhabung deß Westphälischen Friedens bedacht zu seyn/ und der fernern Vergrösserung von Franckreich/ so wol aus Staats= als Religions- Insicht zu widerstehen. 2. Das von Carl Gustaf so hochnützliche auf die Cron gezogene Mediations- Werck/ welches Carl der XI. zwar anfänglich amplectiert/ hernach aber verschertzet/ nimmermehr an die Seite zu setzen. 3. Nimmermehr die Feindschafft deß Kaysers und deß Reichs zugleich auf den Hals zu ziehen/ dieweilen solche sie von dem Reichsboden treiben kan/ wie die Erfahrung erwiesen hat". Der Autor plädiert deswegen ein weiteres Mal für die Wiedereinsetzung der schwedischen Vermittlerrolle, um "den verfallenen Credit mit der gesunckenen Glorie widrum empor zu heben/ und bey dem Reich/ insonderheit bey dero Religions-Verwandten widrum in Ansehen zu kommen".
Das anschließende "Reflexions-Schreiben" warnt vor einem neuerlichen Zerwürfnis zwischen Schweden und Dänemark, auch weil das im Norden ausgelöste Kriegsfeuer "hernach aber in seinem Fortlauff die übrigen Europaeischen Länder deß Christenthums ergreifen/ und in den wärmern Provintzen um desto ärger wüten möchte". Das System der Allianzen im Europa der Mächte wird hier kurz und prägnant beschrieben (siehe Abschnitt C). Das Schreiben schließt mit der Hoffnung, dass es nicht erneut zum Krieg zwischen Schweden und Dänemark kommen möge.
C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers
Im Mittelpunkt der Ausführungen des anonymen Autors steht die Rolle Schwedens als "Arbitrium Europae". Die detailliert beschriebenen Kriege der schwedischen Krone dienen als Beweis für die These, dass Schweden, wenn es seine Macht und Ansehen behalten will, die Rolle als "Arbitrium Europae" nicht wieder aufgeben darf. Durch Ausübung des "Mediations-Wercks" soll es die Mächte Europas vielmehr in Balance halten und dabei besonders auf Frankreich und dessen Vergrößerungsambitionen achten. Anstatt sich in Allianzen und zerstörende Kriege verwickeln zu lassen, soll Schweden auf die effektive Implementierung des Westfälischen Friedens bedacht sein und durch Vermittlung den Frieden zu bewahren suchen. Der Begriff "Europa" steht somit für die Staatenwelt der Allianzen und Allianzkriege, die sich nach dem Westfälischen Frieden formte und in welcher sich langsam die Gleichgewichtsidee ausbreitete. Ähnlich den englischen Schriften der Zeit, die den sich schon formierenden englischen "balance of power"-Gedanken bezeugen (siehe Anonym [1681] "Slave" und Anonym [1689] "Interests"), werden hier die nordischen Kronen und vor allem Schweden als Wächter des Gleichgewichts zwischen den europäischen Mächten begriffen. Doch anders als in jenen, fehlt in der Flugschrift die Idee einer (französischen) Universalherrschaft gänzlich.
Gelegentlich kommt auch der Begriff "Christenheit" in der Flugschrift vor, doch "Europa" kann hier nur implizit als christliche Wertegemeinschaft verstanden werden, da eine tiefergehende religiöse Thematisierung, die beispielsweise die Türkengefahr zum Mittelpunkt haben könnte, nicht existiert. Europa wird nur in der politischen Dimension der Kriegshandlungen, der Allianzen und des Mächtespiels der Königreiche und Republiken verstanden. Das neuzeitliche Mächteeuropa der Allianzen und Allianzkriege tritt besonders im abschließenden "Reflexions-Schreiben" der Quelle hervor. Im Falle einer neuen Ruptur zwischen Schweden und Dänemark würde Schweden ohne Zweifel auf die französische Hilfe rechnen können, so wie England, Kurbrandenburg und Holland auf die dänische Seite treten würden. Polen könnte daraufhin eine Diversion gegen den Zaren in Livland unternehmen und das Haus Braunschweig-Lüneburg "könte auch nicht die gantze Nachbarschafft in Flammen sehen/ dabey stille sitzen/ und nicht löschen helfen", so dass sich der Krieg schnell wieder ausbreiten würde. "Holstein aber/ um dessentwillen diser Krieg sich will anspinnen/ wurde auf seinem Theatro die traurigsten und empfindlichsten Theile diser blutigen Tragoedie müssen spielen lassen/ und keine Seide dabey spinnen". All das würde nur zum Vorteil Frankreichs gereichen, das die Angelegenheit wahrnehmen würde, "um indirectè einen neuen Krieg/ Diversions-Weise anzufangen/ der beede Niderländer widerum in Gefahr setzete". Denn Frankreich habe es im Grunde nicht auf Frieden abgesehen: "In statu quo kan und mag der Französische Adel/ will er anders Brod haben/ ohne Krieg nicht bestehen". Deswegen müsse das übrige Europa vorbauen und das Missverständnis zwischen den nordischen Kronen nicht zum Bruch kommen lassen, "damit sie freye Hände behalten/ um die übrigen Partien zu balancieren". Es bleibe nur zu hoffen, dass Schweden und Dänemark den Frieden bewahren können, denn der Weg, "welcher mit dem Schwerd zum Friede gesucht/ gezeichnet und gebahnet wird/ ist insgemein gar blutig und schlifferig".
(aw)