Anonym [ca. 1650] "Zustande"

Von dem gegenwertigen Zustande in Europa
Eine Rede An die Fuersten und Voelcker. Nach der Copie.
[s. l.] Gedruckt in diesem Jahr. [s. t.]

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (ca. 1650) Zustande", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-ca-1650-zustande-1

Schlagworte: Flugschrift; Habsburger; Mächtesystem; Rede; Schicksalsgemeinschaft; Weltteil;

Fundort: BSB / Res / 4 Eur. 401,34

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Die anonym verfasste Flugschrift enthält weder einen Hinweis auf den ausführenden Drucker, noch auf den Erscheinungsort oder den Zeitpunkt der Herstellung. Sie umfasst sechzehn unpaginierte Blätter, die gleichmäßig vorder- und rückseitig bedruckt sind, wobei aber partiell voneinander abweichende Typen zur Anwendung kamen. Die schlechte Druckausführung und die minderwertige Qualität des verwendeten Papiers lassen darauf schließen, dass die Herstellung der Schrift rasch und unter möglichst geringem materiellen Aufwand stattfinden musste. Dabei deuten Inhalt und die formal-materielle Beschaffenheit der Quelle auf ein Entstehungsdatum kurz nach der Beendigung des "Dreißigjährigen Krieges" (1618-1648), so dass sie um das Jahr 1650 datiert werden kann.
Der Autor leitet den Text mit dem Hinweis ein, dass Europa seit der Antike unter vielerlei Händel und Übel, gemeint sind in diesem Kontext kriegerische Auseinandersetzungen, zu leiden hatte, deren Ergebnis der jetzige, äußerst malade Zustand des Kontinents sei. Als Ursachen für die permanenten Kriege nennt er Betrug, Missgunst und Machtgier, die in allen europäischen Ländern zu finden seien. Im Haus Habsburg sieht er einen Hauptverantwortlichen für die aktuelle Misere. Daher geht er in seinen Ausführungen vor allem auf die Zustände im Deutsch-Römischen Reich, das er als Erbe des Römischen Reiches versteht, sowie auf die Konstellation in Spanien ein. Anhand der beiden Beispiele lässt sich seiner Ansicht nach der Niedergang des tradierten politischen Systems besonders gut nachvollziehen. Exemplarisch führt der Verfasser an, dass die Habsburger Kaiser ihre Söhne bereits zu ihren Lebzeiten zu Deutschen Königen erheben ließen, was unter anderem den Machtverfall der (Kur-)Fürsten nach sich zog. Diese Beispiele ließen sich durch zahlreiche andere verstärken. Es bedeutet für ihn in der Summe, dass althergebrachte Rechte der Stände und der Städte (Handels- und Hansestädte) tendenziell auf das Kaiserhaus übertragen und von diesem monopolisiert würden, was zwar dem Haus Österreich Nutzen, allen anderen aber Schaden brächte: "Was sollte doch in demselben/ moechte man euch Teutsche Herren durch den unsterblichen Gott fragen/ noch etwa wohl ubrig seyn/ das der Alten/ von so viel hundert Jahren/ der/ durch die Keyser/ Glieder und Saeulen deß H. Roemischen Reichs/ so hoch und thewer bestaetigten Form gleich und ehnlich sehe? Wieviel ist nur/ nachdem der Orient davon abgerissen/ Italia vorkaufft/ so viel vornehme und herzliche Reiche und Landschafften verlohren/ dem H. Roemischen Reich/ an vorigen dessen Herzligkeit abgangen und entwendet. [...] Ihr erwehletet vor Zeyten Keysere/ ChurFuersten/ und Staende/ Ihr erwehletet ewere Keysere frey/ ohne Wiederrede/ jetzo werden sie euch gebohren/ jetzo wieder eweren Willen uffgedrungen. Was ewere loebliche Vorfahren vor zeiten mit Ehr und Tugend/ und Ruhm erworben/ und dahero das Reich ewer aller in gemein gewesen/ lasset ihr eines allein seyn/ und zehlet es unter den Eigenthumb deß Hauses Oesterreich."
Die zunehmend mächtigere Position des Kaisers erweise sich aber nicht nur als verderblich für den Zustand des Reiches, sondern auch für ganz Europa, was der Autor beispielsweise durch die Kriege gegen die Böhmen, Dänen und Schweden bestätigt sieht. In diesem Zusammenhang habe sich offenbart, dass es dem Wiener Kaiserhaus lediglich um die Belange der Dynastie, nicht aber um das Wohl des Reiches oder gar Europas gehe. Parallel hierzu hätten auch die spanischen Habsburger über einen langen Zeitraum bewiesen, dass sie nur Eigeninteressen zum Ziel hätten und dabei vor Gewalt und Unrecht nicht zurückschrecken würden, was sich an der zeitweiligen Inbesitznahme Portugals, den Religions- und Unabhängigkeitskriegen in den Niederlanden, der Knechtung des Königreiches Neapel-Sizilien und der unchristlichen Behandlung der amerikanischen Indianer nachvollziehen ließe: "Wie/ bey Euch ihr Iberi/ die Fluegel der Religion zum Deckel aller Grawsamen worden; Können so viel unschuldig/ doch uffs jämmerlichste hingerichtete Indianer/ so vieler abgebrandten/ auß dem Grund gerotteten Koenigreichen Aschen bezeugen. Und damit ihr ausser Argwohn seyd/ alß ob auß Knechtischer Furcht das arme geplagte Volck/ die Warheit vorstellete/ oder/ eweren Nahmen gehaessig/ nachsagte/ So fraget nur/ ewerer so grawsamen Thaten glaubhafften Zeugen/ den Vorweser in Chiappa: Fraget eweres vor Zeiten vortrefflichen Keysers Caroli BeichtVater/ welcher/ dass ewere Lehr und Andacht/ vorzeiten/ mit viel taufens armer Leut Blutvergiessen/ in denen unglueckseligen Indien bekandt worden/ der Anfänger ist."
Auf den letzten Seiten verteidigt der Autor deswegen die Außenpolitik Frankreichs, die seiner Ansicht nach ein notwendiges Gegengewicht zu den beiden Habsburger Machtzentren Wien und Madrid darstellt und innerhalb des kontinentalen Gefüges eine ebenso wichtige Rolle einnimmt, wie England in seiner Funktion als Mittler und Schiedsrichter. Folglich sieht er die kontinentale Zukunft ganz von der Weiterentwicklung des Mächteringens innerhalb dieser Konstellation bestimmt.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

In der als anti-absolutistischen, anti-kaiserlich und anti-katholisch zu verstehenden Flugschrift meint der Begriff "Europa" einen geographisch nicht exakt definierten Weltteil, dessen Länder und Völker durch ein gemeinsames Schicksal miteinander verbunden sind, weil sie in ihrer Gesamtheit durch den politischen Machtanspruch der beiden Habsburger Höfe Wien und Madrid oder durch deren Auseinandersetzung mit dem französischen Hof entweder direkt oder indirekt betroffen sind. In der Quelle werden dabei Böhmen, Polen, Ungarn, Dänemark, Schweden, Schottland, Portugal, Navarra, die Schweiz, die Niederlande und die italienischen Fürstentümer, Republiken und Städte ebenso aufgeführt wie die vier hauptsächlichen - und deswegen ausführlicher beschriebenen - Protagonisten (Deutsch-Römisches Reich, Spanien, Frankreich und England) des europäischen Mächtesystems. Auffällig erscheint bei dieser Aufzählung die völlige Ausklammerung großer ost- und südosteuropäischer Gebiete, weder Russland noch das Osmanische Reich finden Erwähnung.
Der Augenmerk des Verfassers liegt auf einem anderen Thema, welches für die künftige Friedensordnung in Europa kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges von zentraler Bedeutung ist: Die zunehmende Übertragung von feudalen Ansprüchen und Rechten auf die Person des Kaisers und die damit einhergehende Entmachtung der ständischen Gesellschaft. Diese Entwicklung wird von ihm ebenso kritisch dokumentiert wie verworfen, da sie keinen Ausgleich und Frieden in Europa schaffen kann. Der Text der Flugschrift, den der Autor als "Rede an die Fuersten/ und Voelcker in Europa" deklariert, soll dieser schädlichen Tendenz entgegenwirken, indem er die Notwendigkeit und Nützlichkeit des auf Ausgleich bedachten Ständesystems unterstreicht: "Es ist ja unter so vielen bräuchen und sitten/ so vielen Sprachen/ so unterschiedenen Glauben/ und so gar vieler arth Voelckern/ eine solche Einigkeit/ dass ihre die auch allerglueckseligsten nation, dieselbe nicht besser wuenschen vermoechte. Ein solcher Haß der innerliche Kriegen/ dass ihr denenselben/ auch den aller unbilligsten Frieden weitvorzuziehen erachtet ihr wollet von Koenigen geregiret seyn/ selbst aber mit Rathen/ ihr wollet daher das Regiment nach denen beschriebenen satzungenführe/ ihr aber den Schluß machen moeget/ der Koenig ist Euch ein Diener deß Rechtens die Macht und Gewalt stehet bey euch." Die Flugschrift ist somit primär als ein nationaler wie auch internationaler Appell zu verstehen, der Zentralisierung und Monopolisierung von Macht entgegenzutreten und das europäische Mächtesystem in der Balance zu halten.

(rf)

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