Franckreich/ Der Groeste Ungluecks=Vogel In Europa,
Dieses grausamen Barbaren bisherige Proceduren einiger Waffen angeführt/ und endlich die Heil=Mittel gewiesen werden/ wie vermittelst des Dauphins/ und Hoher Alliirten Mediation, endlich die Sach gehoben/ und Hoffnung zu einem raisonablen Frieden zu machen sey.
Stockholm/ Bey Pierre Claudij. [s. t.]
Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Anonym (ca. 1690) Franckreich", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-ca-1690-franckreich/
Schlagworte: Dauphin; Diskurs; Flugschrift; Frankreich; Frieden; Ludwig XIV.; Staatsraison; Universalmonarchie;
Fundort: BSB / Res / 4 Eur. 383,44
A) Kurzbiographie | B) Beschreibung der Quelle | C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers |
[Anonymer Verfasser]
Bei der untersuchten, 88 Seiten umfassenden Quelle handelt es sich um eine Flugschrift, die in Stockholm von einem anonymen Verfasser herausgegeben wurde. Der auf dem Titelblatt als Verleger angeführte Name "Pierre Claudius" konnte keine Details zur Entstehung oder zum Umfeld der Schrift beitragen, da er nicht in einem der gängigen Nachschlagewerke zu finden ist und keine weiteren Werke unter dieser Verlagsangabe zur Publikation gelangten. Obwohl den Titelangaben kein Erscheinungsjahr zu entnehmen ist, kann die Quelle nach ihrer inhaltlichen Durchsicht recht genau datiert werden. Sie stammt aus der Anfangsphase des Pfälzischen Erbfolgekrieges (1688-1697) und muss chronologisch zwischen der "Glorious Revolution" (1688/89), den Verhandlungen zur Bildung der anti-französischen "Großen Allianz" (1689/90) und dem Tod der Dauphine Maria Anna Christina ("Wann man dem gemeinen Gerücht glauben darff/ wird Mad[ame] la Dauphine nicht lang mehr leben.") im Jahr 1690 eingereiht werden. Eingerahmt von diesen Eckdaten kommen lediglich die Jahre 1689 und 1690 als Entstehungs- und Veröffentlichungszeitraum in Betracht, was sich mit der Ansetzung im "Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD17)" deckt. Das in den Katalogen der Bayerischen Staatsbibliothek München (BSB) verzeichnete rekonstruierte Erscheinungsjahr [1697] kann infolge der inhaltlichen Informationen als falsch eingestuft werden.
Die schmucklose Flugschrift, die sich in einem ebenso eindringlichen wie argumentativ eher sachlichen Ton an den Dauphin von Frankreich ("Monseigneur") richtet, enthält neben dem Titelblatt lediglich einen fortlaufenden Text, der sich in vier unterschiedlich lange und partiell fehlerhaft paginierte Abschnitte ("Discourse") gliedert. Im ersten Abschnitt fordert der Autor den Kronprinzen auf, seinen Vater Ludwig XIV. zu entmachten und selbst den französischen Thron zu besteigen: "So ist es auch eben Zeit/ Monseigneur, daß ihr regiertet/ weil ihr den Zepter blos zur Wohlfarth eurer Voelcker tragen sollet; und Ludwig nicht länger regieren kann/ wenn ihnen solches nicht ungluecklich seyn soll." Die Notwendigkeit dieses Schritts begründet er auch mit der veränderten Position Frankreichs im europäischen Staatengefüge: "Schmeichelt Euch ja nicht, Monseigneur, so maechtig als Franckreich immer seyn mag/ so kann es nicht anderst/ als des Glueckes Krebsgang gewaertig seyn/ wann man nicht zu einigen geschwinden und gantz extraordinairen Huelff=Mitteln seine Zuflucht nimmt. Einmal ist gantz Europa wider dasselbe in Waffen/ und ihre Feinde sind um so viel desto mehr zu fuerchten/ weil sie sich um keiner anderen Ursach zusamm geschlagen/ als wegen so unzaehlig Blut=gierigen Unbilligkeiten/ welche es ihnen mit allerhand Arten der hoechsten Ungerechtigkeit angethan hat/ Rache zu ueben/ und zu gleicher Zeit die Ketten und Bande zu zerreissen/ mit welchen man sie belegen wollte." Die gegenwärtige Situation zeige, dass sich die Jahrzehnte andauernde Hegemoniestellung Frankreichs, während der es "gantz Europen Gesetze vorgeschrieben" hatte, nun ihrem Ende entgegen geht. Das Land sei politisch isoliert sowie finanziell und wirtschaftlich angeschlagen. Selbst die noch immer großen Armeen stellen nach Ansicht des umfassend informierten Verfassers (Diplomat?) keine unüberwindbare Hürde mehr dar, weil sie sich in einem schlechten Zustand befänden, was beispielsweise durch die desolate Versorgungslage und die hohe Anzahl der Deserteure zu belegen sei.
Im zweiten Abschnitt werden dem Dauphin daher mehrere persönliche ("[...] wie tractiret man Euch selbsten/ und Madame la Dauphine, Eure Durchleuchtigste Gemahlin[?]"), historische und rechtliche Punkte unterbreitet, welche die gewünschte Machtübernahme rechtfertigen könnten. Dieser Gedankengang zieht sich bis in den dritten "Discours" hinein, in dem noch einmal vehement auf die Notwendigkeit des vorgeschlagenen Handelns hingewiesen wird: "So lang/ als der Koenig sich noch fuer maechtig haelt/ und seiner Gewohnheit nach/ damit sich flattirt/ als waere kein Potentat auf der Welt/ der es ihm an Macht gleich thun koenne; so lang er sich einbildet/ alle seine Usurpationen wären die rechtmaessigsten Conquesten/ und seine Gewaltthaetigkeiten die loeblichste Gerechtigkeit: so lang wird er auch den Thron zu besitzen/ sich eusserst bemuehen; ja euch selbigen nicht eher abstehen wollen/ als biß er ihn mit den Sarg verwechseln muß. Jedoch wann er nur ein mal recht sehen sollte/ daß seine Kraefte abgenommen/ und er eben der einige Held dieser Zeit nit waere/ wie er sich einbildet; ingleichen wie er durch so unzaehlige Unbillichkeiten und verübte Hoftilitaeten/ die auch einem Muhametanischen Printzen schimpflich seyn sollten/ sein Leben und Regierung so schaendlich beschmitzet haette; So duerffte er endlich noch wohl zu sich selbsten kommen/ und sich begreiffen/ auch sothaner Gestalt euch den Scepter ueberlassen/ welchen er laenger zu fuehren/ nicht mehr capabel ist."
Als zukünftiger französischer König dürfe es sich der Dauphin nicht erlauben, die Augen vor der Realität zu verschließen. Nur eine neue und umfassende Friedensregelung wäre zum Nutzen Frankreichs, doch würden die alliierten Fürsten dem tyrannischen und wortbrüchigen Ludwig XIV. sicher kein Vertrauen mehr entgegenbringen. Die ihm zur Last gelegten Verbrechen reichen von der gegen das Sakrament der Ehe gerichteten Mätressenwirtschaft, der unrechtmäßigen Vertreibung der Protestanten nach dem Revokationsedikt (1685) bis zu dem von ihm eingeführten gotteslästerlichen Götzendienst (Sonnenkönig als "Gottersatz"). Die - standesübergreifende - Freiheit der Franzosen ("Die Frantzosen moegen sich immer ruehmen/ daß sie einen Namen fuehren/ welcher beweise/ daß sie fuer * freye [* Francs ist so viel als frey.] Voelcker zu achten; sie aber sind nichts als Sclaven/ seither Ludwig der XIV. ihr Koenig ist. Dann was ist fuer ein Stand in dem Koenigreich/ der sich ruehmen koenne/ daß er seine Privilegien geniesse. Frankreich ist recht in Fesseln.") erfordere den Sturz des Königs, da sonst die gesamte Nation von der europäischen Opposition, die jetzt das "Gesetz des Staerkeren" auf ihrer Seite hat, in die Knie gezwungen werden würde. Das Schicksal Frankreichs und Europas liegt nach diesen Ausführungen nun in erster Linie in den Händen und der Vernunft des Dauphins.
C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers
Die entscheidende Stelle im ersten Quellenabschnitt besagt, dass "die Politic [Europens] sich heutiges Tags nicht mehr nach den Maximen des Chrystenthums [regulirt]". Der anonyme Autor führt in seinen Ausführungen demzufolge auch nicht das tradierte Bild Europas als "christliche (Werte-)Gemeinschaft" an oder beruft sich wie zahlreiche seiner Zeitgenossen auf Europa als "Hort des Christentums" (vgl. Anonym [1684] "Staats=Perspectiv", Anonym [1686] "Franckreich" u. a.), sondern er versucht stringent mit den Mitteln politischer Vernunft zu argumentieren. Natürlich muss hierbei beachtet werden, dass sich die Flugschrift nicht an ein anonymes, breites Publikum, sondern an den französischen Thronfolger wendet, der aufgefordert wird, der neuerlichen Kriegssituation zum Wohle der "Nation" mit Vernunft und Entschlusskraft entgegen zu treten.
"Europa" ist nämlich in zwei machtpolitische Lager gespalten, die relativ einfach zu definieren sind. Auf der einen Seite steht das Frankreich Ludwigs XIV., das aufgrund der hegemonialen Ambitionen des Monarchen, die darin bestehen, seinen Einfluss über ganz Europa auszudehnen und somit eine Universalmonarchie zu errichten, vollkommen in die Isolation getrieben wurde. Auf der anderen Seite stehen jene europäischen Mächte (hierbei sind vor allem das Heilige Römische Reich, England, die Generalstaaten und Spanien zu nennen), die entschlossen sind, gegen dieses Vorhaben vorzugehen. Auch wenn sich aufgrund dieser Konstellation eine Parallele zu dem Streben Karls V. ("Ist Ludwig XIV. diesem Kaeyser in einigen Stuecken aehnlich/ so ist es in dem/ daß er eben sowohl als jener nach der Universal-Monarchie gestrebet; daß er die Protestanten verfolget; daß er sich mit dem Roemischen Stuhl zerfallen/ dass er sich unzaehlige Feinde gemacht/ und daß er nicht geglaubt/ daß es sich zu dem Character eines Fuersten schicke/ wann man ein Sclav seiner Wort und Zusagungen seyn mueste;") anbietet, so scheint die jetzige Situation noch gefährlicher, noch explosiver zu sein, da ausnahmslos alle Staaten Europas, von "Portugall" bis zu den "Moscowitern" und von den Schweden bis zum "Neapolitanischen und Sicilischen Reich", direkt vom "Tyrannen Ludwig" ins Visier genommen sind.
Ludwig XIV. wird in der Quelle als ein von den Einflüsterungen seiner Höflinge und Mätressen, aber auch von eigenen Einbildungskraft vernebelter Monarch beschrieben, der jeden Sinn für die Realität verloren hat. Sein Denken und Handeln verstößt nicht nur gegen die Rechte anderer Fürsten oder das (von England anvisierte) europäische Gleichgewicht, sondern auch gegen eine den neuen Umständen angepasste "Staatsraison", die explizit das Wohl Frankreichs und nicht das persönliche Wohl des Monarchen fokussiert. Die Durchsetzung solcher neuen Maxime sei von Nöten, da die langfristigen Erfahrungen mit der biegsamen Politik des französischen Königs den europäischen Mächten die Augen geöffnet und sie zu einem entschlossenen Handeln gebracht hat. So kam ihre Koalition zwar nicht aus freien Stücken, sondern vielmehr aufgrund der gewachsenen Überzeugung, sich vor dem Bourbonen schützen zu müssen, zusammen, doch schweiße sie diese Bedrohung nun umso fester aneinander. Die neuen politischen Bedingungen und Strukturen sind nach der Meinung des Verfassers aber nicht mehr vom alten König zu akzeptieren oder gar zu bedienen. Der Dauphin muss somit als "natürlicher Erbe" Ludwigs XIV. von allen Seiten gleichermaßen als Hoffnungsträger Frankreichs und Europas akzeptiert werden.
(rf)