Der Christlichen Wahrheit gehabte Audiens, Bey dem Allerchristlichsten König Ludwig dem XIV. Zu Versailles. Am Neuen Jahrs=Tag 1690. Worinnen im Namen deß gantzen Christlichen Europae, dem König sein biß anhero Un=Christliches Verfahren zu Gemüth geführt/ und von ihm derowegen Rechenschafft begehret wird.
[Freiburg 1690]
Zitierweise: Josef Köstlbauer: Quellenautopsie "Anonym (1690) Audiens", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1690-audiens/
Schlagworte: Christenheit; Frankreich; Ludwig XIV.; Mächtesystem; Pamphlet; Propaganda;
Fundort: ÖNB / 33.K.90
A) Kurzbiographie | B) Beschreibung der Quelle | C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers |
[Anonymer Verfasser]
Der vorliegende, 66 Seiten umfassende Band erscheint 1690 anonym und ohne Angabe von Ort und Verleger. Der Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek führt allerdings Freiburg im Breisgau als Druckort an.
Den inhaltlichen Rahmen dieser Schrift bildet ein Auftritt der "Christlichen Wahrheit" vor König Ludwig XIV. Das Frontispiz zeigt eben diese Szene; vor der zentralen Figur des auf seinem Thron sitzenden Ludwig steht im rechten Bildvordergrund die in ein einfaches antikisierendes Gewand gehüllte "Wahrheit". Ihr Blick und die rechte Hand sind dem König zugewandt, in der Linken hält sie eine Landkarte, auf welcher der aufmerksame Betrachter den Rhein und die durch Rauchwolken und Ruinen kenntlich gemachte Pfalz erkennen kann. Der König wird zu beiden Seiten von Gruppen aus Höflingen und Hofdamen umrahmt, im linken Bildvordergrund blickt ein mit Pike bewehrter Gardist den Betrachter an.
Dem Haupttext vorangestellt ist eine kurze, mit dem leider nicht aufzulösenden Pseudonym "Sebold:Tstber:J.Q." unterzeichnete Vorrede, die sich an einen ungenannt bleibenden Herrn richtet und die Illusion zu vermitteln sucht, dass es sich bei der vorliegenden Schrift um die Übersetzung eines französischen Berichtes aus Versailles handelt. Der Haupttext selbst läuft durchgehend über 61 Seiten und ist mit lateinischen Anmerkungen versehen. Er hat den Charakter einer an Ludwig XIV. gerichteten Rede (vorgetragen von der personifizierten "Christlichen Wahrheit") und beginnt mit den Worten "Großmächtigster König". Zentrales Element ist die heftige Kritik an der Regierung des französischen Monarchen, damit reiht sich dieses Pamphlet unter die zahllosen antifranzösischen Flugschriften, die damals im deutschsprachigen Raum erschienen sind. Es ist die Zeit der Anfangsphase des Pfälzischen Erbfolgekrieges (1688-1697), als die Verwüstung der Kurpfalz durch französische Truppen (1689) großes Entsetzen auslöste und durch den Beitritt Englands und Hollands zur Liga von Augsburg die "Große Allianz" (1689/90) gegen Frankreich geschaffen wird.
Die "Wahrheit" erhebt den stereotypen Vorwurf, Ludwig trachte - von "Regiersucht" getrieben - danach, seine Macht auf Kosten des Friedens der Christenheit zu erweitern, und vernachlässige damit seine Pflichten als christlicher Monarch gegenüber Gott und Menschen ("Ludwig! Es ist ein Gott/ und Du bist dessen Ebenbild/ Liebe ihn wie sichs gebührt/ verehre sein Gesetz/ Der Glaub so unsern Herzen diß befihlt/ Machet keinen Unterschied/ zwischen Königs und Schäfers Hertz.").
Außerdem wird die monarchische Selbstüberhöhung des Sonnenkönigs kritisiert: "Die Schmeicheley hat Eu. Majestät seit etlichen Jahren der Sonn/ als dem vornehmsten aller Gestirn verglichen/ und gleichwie die übrigen alle von disem ihren Schein entlehnen/ also haben Eure Schmeichler außgeruffen/ daß alle übrige Hohe Häupter in Europa von Eu. Maj. Ebenbild mit Strahlen umgeben/ allein sie haben vergessen zu melden/ daß diser Vatter der übrigen Lichter auch zuweilen seine Finsternussen leide." Dem gegenübergestellt wird das Vorbild Ludwigs des Heiligen (Ludwig IX. von Frankreich), der alle Tugenden eines christlichen Fürsten im Übermaß besaß, insbesondere jene der Demut.
In dieser Schrift fehlt auch nicht die für die anti-ludovizianische Propaganda typische Anschuldigung, dass Frankreich von den Kämpfen der Christenheit gegen die Türken zu profitieren versucht. So wird der König dafür kritisiert, dass er die Deutschordensritter und Malteser ihrer Güter beraubt hätte, während diese Ordensleute in Ungarn und Morea gegen die Osmanen kämpften.
Ein Hinweis auf das protestantische Bekenntnis des Autors sind dessen Angriffe auf die Re-Katholisierungs- bzw. Ausweisungspolitik Ludwigs XIV. (Aufhebung des Edikts von Nantes 1685). Er plädiert für "die Verehrung und Fortpflanzung der Religion/ nach dem Evangelischen Gesetzen/ ohne daß man sich derselben als eines falschen Anspruchs oder eines Instrumentes/ um einander damit zu ertödten/ bediene."
Zum Schluss folgt ein eindringlicher Appell an den König "mit dem jenigen/ was die sehr freygebige Hand Gottes Euch geben/ Euch vergnügen zu lassen/ aus Forcht/ damit indeme Ihr frembdes Guth suchet/ das Eurige nicht etwa dardurch verlieret. [...] Und wisset/ König/ daß Eurer Wächter starcke Rott von Gold und Silber reich geziert/ von der Forcht (wozu Ihr seyd von Gott verdammet) Euch nicht befreyen wird. [...]
Umsonst das Urtheil Ihr beklagt
So nicht von Euch gefället worden.
der jene/ so allen Forcht gemacht/
Hat sich zu förchten von allen Orthen."
C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers
Eine Schlüsselsequenz bezüglich Europa findet sich gleich zu Beginn des Textes. Vor dem Thron Ludwigs verlangt die Wahrheit "im Namen deß ganzen Christlichen Europae von Ew. Majest. die Ursach zu wissen/ so viler in veracht und hindan gesezter Eydschwür/ so viler in bester Treu mit festem Glauben geschloßner/ und freventlicher Weiß gebrochener Bündnüssen/ so vilen in Übereilung beschehenen Blutvergiessens/ deß Allerheiligsten Verachtung." Die Politik des französischen Königs zerstört also die Hoffnung der Christenheit auf Frieden. Im Umkehrschluss erscheint demnach ein Gleichgewicht der Mächte, abgesichert durch Bündnisse und Bündnistreue, als der ideale, friedenssichernde Zustand. Besonders letzteres äußert sich auch in der folgenden ernsten Warnung an den König: "Aber leyder/ Großmächtiger König! Eu. Majest. haben lieber die gantze Christenheit durch ein blutigen und unversehenen Krieg zu den Waffen nöthigen wollen/ ohne daß selbe sich erinnert/ in was grossen Veracht die Histori ander Könige gebracht/ welche ihrer Regiersucht den Zaum allzuweit schiessen lassen." Die Geschichte zeigt also, dass zu ambitionierte Herrscher letztlich zu Fall kommen, so wie auch Ludwig, welcher zum aktuellen Zeitpunkt die "gantze Christenheit" in Waffen gegen sich hat.
Ohne, dass der anonyme Autor seine Vorstellungen von Europa explizit ausführt, wird damit einerseits das klassische Bild von Europa als christlicher Gemeinschaft deutlich und andererseits die politische Vorstellung von Europa als System der Mächte, das durch das Streben ehrgeiziger Fürsten nach einer Vormachtstellung aus dem Gefüge gerät.
(jk)