Johann Ernst Müller [1699]

Johann Ernst Müller:
Freundlichste Einladung zu dem Schau=Spiel genandt: Das durch den Frieden erfreuete Europa, Welches mit Des hochgebohrnen Grafens und Herrns/ Hn. Albert Anthons/ Der Vier Grafen des H. Roem. Reichs/ Grafens zu Schwarzburg und Hohnstein/ Herrns zu Arnstadt/ Sondershausen/ Leutenberg/ Lohra und Clettenberg/ Unsers gnaedigen Grafens und Herrns/ gnaedigster Verguenstigung/ den 25. 26. und 27. Januarii, itztlauffenden Jahres/auf unserm Schul=Theatro, jedesmal nach Mittags um zwey Uhr/ An statt des Winter=Actus, wird vorgestellet werden durch die studirende Jugend Von M. Johann Ernst Muellern/Con-R.
Rudolstadt/ mit Urbanischen Schriften, Dddd [1699].

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Johann Ernst Müller (1699)", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/johann-ernst-mueller-1699/

Schlagworte: Allegorie; Frieden; Schauspiel; Schultheater;

Fundort: BSB / 4 Diss. 451

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung bei Müller

 

A) Kurzbiographie

Johann Ernst Müller wurde um 1660/65 in dem thüringischen Ort Bergen geboren. Über seine familiäre Herkunft und seine schulische Ausbildung liegen keine Informationen vor. In den Achtziger Jahren studierte er in Lübeck, Jena und Leipzig Medizin, Philosophie und Theologie. Er erlangte im Jahr 1687 mit einer Dissertation an der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig den Doktorgrad. Seit den frühen Neunziger Jahren bekleidete er den Posten eines Konrektors am Gymnasium in Rudolstadt, dessen Leitung er zur Zeit der Jahrhundertwende übernahm. Während seiner Karriere im Schuldienst entstand eine Vielzahl von Erziehungs- und Lehrschriften, die lediglich lokale Bedeutung besaßen. Im Jahr 1689 beschäftigte er sich erstmals nachweislich mit dem Thema "Europa" und verfaßte die Abhandlung "Europae hodie imperantis summa capita ex historia". Müller starb vermutlich bereits im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in Rudolstadt.

 

Literatur:

  • Deutsches Biographisches Archiv, Alte Folge, Mikrofiches-Edition, MF 870.
  • Jöcher, Christian Gottlieb: Allgemeines Gelehrten-Lexicon, 3. Theil, Leipzig 1751 (Reprint: Hildesheim 1961), Sp. 733-734.

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B) Beschreibung der Quelle

Bei der Quelle handelt es sich um ein Programmheft, das Müller für die drei Aufführungstermine seines Theaterstückes "Das durch den Frieden erfreuete Europa" verfaßt hat. Es beinhaltet ein mehrseitiges Vorwort an den Leser, eine ausführliche, nach Akten und Szenen geordnete Inhaltsbeschreibung, ein kurz gehaltenes Nachwort sowie eine vollständige Besetzungsliste. Obwohl die Textfassung des Stückes nicht mehr erhalten ist, läßt sich sein Aufbau und Inhalt durch das vorliegende Programmheft anschaulich rekonstruieren.
Im Vorwort erklärt der Verfasser den Beweggrund ("Es hat mir unsere studirende Jugend bisanhero zu unterschiedenmalen angelegen/ daß ich selbiger/ ... durch Zusammentragung einer nützlichen Comödie den Zugang zu unserer Schaubühne eröffnen mögte") seiner Arbeit und berichtet über die Schwierigkeiten ("wenn man das Argument nach der Zahl der Personen/ ... und nicht etway nach den Umstaenden der Sachen abmessen muß ..."), die er beim Schreiben zu bewältigen hatte. Er entschuldigt die mangelnde Qualität seines Stückes und verweist darauf, daß es für einen pädagogischen Zweck verfaßt wurde. Daher kann das Werk keinem Vergleich mit dem höfischen Theater standhalten. Schließlich betont Müller, daß er aber versucht habe, sowohl antike (aristotelische Gesetze), wie auch zeitgenössische ("geistliche Lehren", "freudige Erinnerung der Wohlthaten Gottes") Regeln zu beachten, um im positiven Sinn auf die jugendlichen Schauspieler und die Zuschauer einwirken zu können.
Wie aus der Inhaltsangabe des Programms hervorgeht, besteht "Das durch den Frieden erfreuete Europa" aus 5 Akten/Abhandlungen, die sich in 39 Szenen/Aufzügen (1/6, 2/6, 3/7, 4/14, 5/6) unterteilen. Der erste Akt stellt die Grausamkeit des Krieges anhand von verschiedenen Schicksalsschlägen dar (Verlust von Eigentum, Flucht aus dem Vaterland sowie Marter und Tod), die ein Priester, ein Kaufmann, ein Bauer und eine arme Frau erleiden. Als Drahtzieher dieses irdischen Übels entpuppt sich ein äußerlich gut getarnter Kriegstyrann ("Printz von Schlaraffenland"), der zusammen mit seinem Kanzler ("Reineckenfuchs") die Welt in immer neue Greueltaten stürzen will. Parallel zu dieser irdischen Ebene des Geschehens existiert eine weitere Ebene, die die Vorkommnisse mit Hilfe von allerlei allegorischen Figuren (z. B. Länder- und Erdteilallegorien) zu deuten versucht.
Der zweite Akt zeigt das allgemein wachsende Verlangen nach Frieden auf, welches anhand der kriegsführenden Parteien im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688-1697) thematisiert wird. Der dauerhafte Bruderzwist zwischen den zwei mächtigen Kindern der "Europa" - "Germanum" und "Gallum" - erweist sich in diesem Zusammenhang als schwierigstes Hindernis. In der letzten Szene des zweiten Aktes tritt erneut der Kriegstreiber mit seinem Kanzler auf, um zu beraten, wie eine friedliche Einigung zwischen den Konkurrenten vereitelt werden kann. Zu diesem Zweck verbünden sie sich in den ersten Szenen des dritten Aktes mit Mars, Bellona sowie den drei Höllenfurien, um die anstehenden Friedensverhandlungen zu erschweren. Schließlich greifen "Svecum", Justitia und der personifizierte Tod in das Geschehen ein und wirken auf "Gallum" ein, das den aktuellen Krieg verursacht hat. Obwohl "Gallum" einlenkt und sich zum "völligen Frieden" entschließt, endet der dritte Akt mit einigen pessimistischen Weissagungen der "Europa".
Im vierten Akt verlagert sich der Schauplatz des Geschehens an den Hof des "Türckischen Kaysers", wo die von "Europa" und "Asia" beauftragten "Anglum" und "Belgam" versuchen, einen Frieden zwischen "Hungarum", "Polonum", "Italum" und "Russum" einerseits, sowie den Türken und Tartaren andererseits zu vermitteln. Die Schwierigkeiten wie Intrigen und Mordanschläge, die sich den "Mediatores" in den Weg stellen, scheinen zuerst übermächtig zu sein, doch kann auch zwischen diesen Parteien schließlich ein Friedensschluß erzielt werden. Im fünften Akt laufen die unterschiedlichen Handlungsstränge zusammen, indem alle Vertreter des Krieges entlarvt bzw. beseitigt werden und der Friedensschluß an beiden Fronten gefeiert wird. Die abschließende Szene zeigt das Freudenfest des Apoll und der Musen, nachdem die Botschaft vom Frieden den Parnass erreicht hat.
Im Nachwort verweist Müller auf den anstehenden Spielplan samt zusätzlich gespielter Theaterstücke sowie auf die Unkosten seines schulischen Theaterbetriebes, welche den Eintrittspreis rechtfertigen sollen. Die beigefügte Besetzungsliste führt im Anschluß alle 69 Personen namentlich auf, die zum Teil in verschiedenen Rollen bei den Aufführungen mitwirken. Müller beendet seine Ausführungen mit dem Chronogramm "Rudolstadt/ den 13. Januarii, Im Jahre/ da VVIr bItten/ VVahrer Gott/ Daß Der FrIeD eVVIg sey. Laß Vns Ins kVnfftIge nIe hören krIegs=GesChreI." (Fettdruck = Hervorhebung d. Verf.]. Durch die Addition aller römischen Ziffern ergibt sich die Jahreszahl 1699. Das Programmheft enthält darüber hinaus keine weitere Datierung.

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C) Europabegriff und -vorstellung bei Müller

"Europa" erscheint in Müllers Theaterstück als allegorische Figur. Sie tritt erstmals in der fünften Szene des ersten Aktes auf und beklagt den jämmerlichen Zustand ihres Landes, der durch alle ihre Kinder "Germanum, Gallum, Hispanum, Anglum, Svecum, Danum, Lusitanum, Russum, Hungarum, Polonum, Italum und Belgam" verursacht wurde. Sie beschließt vor den Thron Gottes zu treten und um die Wiedereinrichtung des Friedens zu bitten. Im zweiten Akt, der aus dieser Szene hervorgeht, trifft sie auf ihre Schwestern Asia, Africa und America, die sich über ihre Gewalttätigkeit beklagen. Sie sehen in Europas Kindern die Verursacher jeglicher Unruhe und Gewalt in der Welt und begleiten schließlich die Schwester auf ihrem Weg zu Gott.
Im Himmel angelangt findet ein allgemeines Weltengericht statt, welches das Für und Wider des menschlichen Wesens thematisiert. In der vierten Szene des zweiten Aktes fordert Europa ihre Kinder zum Frieden auf, wozu sich auch alle bis auf die stetigen Kontrahenten "Germanum" und "Gallum" bereit finden. Restitution und Satisfaktion bestimmen ihr gegenseitiges Verhältnis, worüber sich die Figur der "Europa" immer wieder betrübt. Hauptsächlich durch die Vermittlung von "Svecum" kommt es zu einem Einlenken im aktuellen Konflikt, doch Mutter "Europa" ahnt bereits neue Streitereien, als ihr die Nachricht vom Frieden zwischen den Parteien überbracht wird.
Der vierte Akt handelt ebenfalls von familiären Konflikten. Er nimmt sich der Auseinandersetzung zwischen den verfeindeten Abkömmlingen der Schwestern "Europa" und "Asia" an. Durch die Vermittlung  von "Anglum" und "Belgam" schließen jedoch auch die personifizierten Kinder (!) der "Europa", "Hungarum", "Polonum"; "Italum" und "Russum", mit den Völkern (!) Asiens, den Türken und Tartaren, den lang ersehnten Frieden. Die neue, friedliche Familien- bzw. Weltordnung wird schließlich von allen Schwestern gefeiert.
Müller folgt im Aufbau seines Theaterstücks barocken Mustern und vermengt aktuelle Geschehnisse (Pfälzischer Erbfolgekrieg, Türkenkriege) mit dem Ordnungsgedanken seiner Zeit. "Europa" und ihre zwölf Kinder sind für die Ereignisse die ausschlaggebenden Akteure, da Krieg und Frieden in der europäischen Familie auch Krieg und Frieden in allen anderen Teilen der Erde bedeutet. Interessanterweise scheinen alle "Kinder" gleichwertig zu sein und werden nicht mit auffällig negativen bzw. positiven Eigenschaften belegt, um das Stück "patriotisch" einzufärben. Auch die Frage nach den Religionen (Christentum vs. Islam) und ihrer Wertigkeit kommt nicht zur Sprache, obwohl Müller noch im Vorwort darauf hinweist, "eine geistliche Comödie auf die Schul=Bühne" bringen zu wollen. Müllers Wunsch nach einem dauerhaften Frieden in Europa wirkt auf diese Weise erstaunlich bedingungslos und scheint vom humanistischen Gedankengut seines Vorbild, des "seligen Reuchlinus", geprägt zu sein.

(rf)

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