Marchamont Nedham [1678]

Christianissimus Christianandus, Oder Eines Englischen Patrioten wolgegründete
Beweg=Ursachen / Durch was Mittel / und auf was Art und Weise/
Franckreich/ zu einem Christlicherm Stande zu bewegen: Worinnen zugleich bloß gestellt und entdeckt wer=den die arglistige Verleitungen/ so von diesem Hofe/ seithero den Pyrenäischen Tractaten/ verschiedenen Fürsten und Herren/ geschehen.

Odimus Accipitrem, quia semper vivit in armis.
Das ist: Von andern Vögeln wird der Habicht recht verhasst/ weil er die Klauen hält zum Rauben stäts gefasst.
[s. l.] Gedruckt im Jahr 1678.

Zitierweise: Josef Köstlbauer: Quellenautopsie "Marchamont Nedham (1678)", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/marchamont-nedham-1678/

Schlagworte: Bündnisse; Christenheit; Einigkeit; England; Frankreich; Freiheit; Kriegsaufruf; Ludwig XIV.; Mächtesystem; Regiersucht; Streitschrift;

Fundort: ÖNB / 77.Dd.266

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung bei Nedham

 

A) Kurzbiographie

Marchamont Nedham (auch: Needham) gilt als einer der ersten Journalisten Englands, seine schillernde Karriere spiegelt die wechselhafte Geschichte des englischen 17. Jahrhunderts wieder. Er wurde 1620 in Burnford, Oxfordshire, geboren. Sein Stiefvater war dort Vikar und Schulleiter. Nach einem Studium in Oxford (All Souls' College und St. Mary Hall) arbeitete der junge Nedham eine Zeit lang als Hilfslehrer, bekam dann aber eine Anstellung als Schreiber eines Anwalts am Gerichtshof Gray's Inn. 1652 wurde er als Angehöriger von Gray's Inn sowie als Bürger der Stadt Westminster anerkannt.
Nedhams öffentliches Wirken begann 1645 mit seiner Arbeit für den Mercurius Britannicus, einer politischen Wochenzeitung. Der Britannicus vertrat die parlamentarische Agenda und war damit das Gegenstück zum royalistischen Mercurius Aulicus. Nedhams satirischer und bissiger Stil sicherte ihm rasch die Aufmerksamkeit beider politischer Lager und ihrer Anhänger. Ein Zeitgenosse charakterisierte den Britannicus so: "Once a week sacrificing to the beast of many heads the fame of some lord or person of quality, nay, even of the king himself." Die Rücksichtslosigkeit seiner Schriften - auch gegenüber dem König - brachte Nedham bald seinen ersten Gefängnisaufenthalt ein. Mit einem Publikationsverbot belegt widmete er sich dem Studium der Medizin. Doch schon 1647 trat er als Herausgeber des Wochenblattes Mercurius Pragmaticus auf, in dem er die royalistische Seite verteidigte - mit gewohnter Schärfe. Dieser angesichts der chaotischen Situation in England und der Niederlage der royalistischen Partei gefährliche Seitenwechsel brachte ihn 1649 erneut in den Kerker. Um der drohenden Hinrichtung zu entgehen, wechselte Nedham wiederum die Seiten und stellte sein Talent in die Dienste Cromwells. Sein neues Vehikel war der Mercurius Politicus. Daneben war Nedham zeitweise noch für andere Blätter verantwortlich und übernahm auch direkt publizistische Aufträge für die Regierung. Obwohl Nedham ob seiner moralischen Verfassung immer wieder heftig kritisiert wurde, gelangte er in seinen Kreisen zu einiger Popularität, sowohl als Publizist wie auch als Arzt. 1660 wurde er als Herausgeber des Mercurius abgesetzt, da seine heftigen Angriffe auf Karl II. kurz vor der Restauration inopportun erschienen. Trotzdem bediente sich schließlich auch die Regierung Karls seiner Fähigkeiten.
Neben seinen Zeitungsprojekten verfasste Nedham noch einige Bücher, in denen er sich den verschiedensten Themen widmete, von der Schulreform bis zur Bedeutung der Chemie in der Medizin. Sein 1656 erschienener Traktat The Right Constitution of a Government erwies sich für die Entstehung der amerikanischen Verfassung als einflussreich. Marchamont Nedham starb 1678 in London, sein Grab liegt in der St. Clement's Danes Church.

 

Literatur:

  • British Biographical Archive, Mikrofiches-Edition, MF 808.
  • Dictionary of National Biography, Bd. 40, London 1894, S. 159-164.
  • Raymond, Joad: Pamphlets and Pamphleteering in Early Modern Britain, Cambridge 2003.

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B) Beschreibung der Quelle

Die vorgestellte Quelle erschien ursprünglich in englischer Sprache unter dem Titel Christianissimus Christianandus; or Reasons for the Reduction of France to a more Christian State in Europe. Das Erscheinungsjahr 1678 ist auch das Todesjahr des Autors Marchamont Nedham. Die hier vorliegende deutsche Übersetzung erfolgte noch im selben Jahr, was wohl auf die offensichtlich große Nachfrage an anti-französischen Schriften zurückgeführt werden kann. Angaben zum Verlag fehlen. Zumindest eine Übersetzung ins Französische wurde vorgenommen, sie erschien bei Jean Nicolas. Das Erscheinungsjahr ist allerdings unbekannt.
Die Aufmachung des Bandes im Oktav-Format ist schlicht, er verfügt über ein einfaches Titelblatt, ein Inhaltsverzeichnis ist nicht vorhanden. Der 68 Seiten umfassende Text gliedert sich in fünf Kapitel oder "Abtheilungen", wobei die erste die Funktion einer Einleitung übernimmt.
Erklärtes Ziel des Autors ist es, die Macht- und Herrschsucht Frankreichs deutlich zu machen sowie jene Gründe darzulegen, die einen Krieg gegen Frankreich notwendig machen. In der Konstruktion des französischen Feindbildes folgt der Autor ganz den Linien des damals auch im Reich fest etablierten anti-französischen Diskurses. So wird kritisiert, dass Frankreich mit den Osmanen gemeinsame Sache mache, dass seine Politik von reinem Selbstinteresse und "Staatsucht" motiviert sei und dass es die Errichtung einer Universalmonarchie anstrebe: "Dargegen aber scheinet/ als ob Franckreich ungezweiffelt glaube/ daß ihm/ Regnandi causa, oder/ damit er über das ganze Christenreich ein Monarch und Ober=Beherrscher werden möge/ alles zu thun erlaubt sey/ was ihm nur/ einigerley Weise/diesen seinen Entzweck zu erlangen/ beförderlich seyn könne." Ebenso angeprangert wird die Art und Weise wie politische Ziele umgesetzt werden ("arglistig=verschlagene Räncken"). Die moralischen Defizite werden teils auf nationale Eigenschaften teils auf gesellschaftliche Strukturen zurückgeführt: Da ist einmal die angeborene Hitzigkeit der Franzosen, die sich, wenn keine Kriege gegen Nachbarn stattfinden, unweigerlich in inneren Streitigkeiten entladen würde. Dazu kommt das Erbrecht, welches viele unbemittelte Söhne von guter Geburt dazu zwingt, sich ihren Unterhalt mit dem Schwert im Dienst des Königs zu verdienen. In den blumigen Worten des Autors: "Also daß/ im Fall ihre Ministri keine ausländische Luft fänden/ worbey ihre Miltzen schmauchen möchten/ die Flamm unfehlbar in ihren eignen Ingeweiden ausbrechen sollte."
Der Autor argumentiert, die "Frantzösische Ministri" hätten das "gemeine Völcker=Recht geschändet". Das zutage tretende völkerrechtliche Verständnis basiert einerseits auf römischen Traditionen und geht andererseits pragmatisch von der Notwendigkeit der Berechenbarkeit zwischenstaatlicher Beziehungen aus. Untermauert werden die Anschuldigungen durch Darstellungen des französischen Devolutionskrieges gegen Spanien, Frankreichs Angriff auf die Niederlande, die Besetzung Lothringens, die Einflussnahme auf die polnische Erbfolge usw. Interessant ist die Bewertung der in diesem Zusammenhang höchst unpassenden Allianz Karls II. mit Frankreich (Geheimvertrag von Dover 1670) und die englische Teilnahme am 3. Holländischen Krieg (1672-1674). Der Autor stellt die Situation so dar, dass England von Frankreich getäuscht und gegen seine eigentliche Absicht in den Krieg hinein gezogen worden wäre.
Auf dieser Argumentationskette aufbauend erklärt der Autor schließlich "daß von den Franzosen/ als die mit uns/ und allen anderen Nationen/ im Punct des Friedens/ ganz fälschlich gehandelt/ keine Sicherheit/ als durch einen allgemeinen Krieg zu gewarten sey." Ein Eingreifen gegen Frankreich liege in Englands ureigenstem Interesse, so der Autor, der langfristig auch England bedroht wähnt: "…aus der Französischen Staatsucht/ die ganz ruchlos und unmenschlich seyn will/ und so wenig zu vergnügen seyn wird/ als ihr Geiz/ der so groß/ daß er alles veste Land gar leicht folgends einschlucken solte/ und die beyden Eyländer Groß=Britannien und Irrland nur zu ihren letzten Brocken bewahren und aufbehalten." Es geht in der vorliegenden Quelle in letzter Konsequenz also um die Propagierung eines gerechten Krieges gegen Frankreich, was im Schlusssatz nochmals ganz deutlich gemacht wird: "Welches alles wol erwogen/ uns sehr füglich mit dem alten Spruch des Ciceronis sagen/ und unsere Erzehlung schliessen machet nemlich/ quod justissimum bellum iniquissimae paci anteferendum, das ist/ daß ein rechtmäßger Krieg einem ungerechten/ und so wol uns/ als anderen Nationen in Europa schädlichen Frieden unwiedersprechlich weit vorzuziehen sey."

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C) Europabegriff und -vorstellung bei Nedham

Die Vorstellung von Europa, welche dieser Quelle zu Grunde liegt, ist jene von Europa als Sitz der Christenheit und Gemeinschaft der christlichen Reiche. Diese Vorstellung manifestiert sich einerseits im Thema einer drohenden französischen Oberherrschaft über ganz Europa und andererseits in der Abgrenzung und Verteidigung der Christenheit gegenüber dem fremdgläubigen Osmanischen Reich.
Die Bestimmung Europas liegt im Frieden zwischen den Potentaten als Voraussetzung für die Einigkeit der Christenheit. Aber Frankreich und die Osmanen verhindern die Verwirklichung dieser Einheit: "Alles was die Türcken seither der Zeit Francisci des Ersten/ bis diese Stunde im Christenreich verrichtet/ das haben allein die Französische Verbündnüsse mit dem Ottomanischen Hofe/ und die Spaltungen/ so Franckreich/ demselben einige Gunst zu erweisen/ unter denen Christen erwecket/ ob es wol sich immer gestellt/ als wann diesem allgemeinen Feind des Christlichen Glaubens selbst anzufahen/ willends verursacht und ausgewirckt."
Mit Europa assoziiert erscheint das Prinzip Freiheit - als Gegensatz zum despotischen Orient. Die Verteidigung dieser Freiheit wird hier ebenfalls zum Grund für einen Krieg gegen Frankreich: "Ihre [Frankreichs] Staatssüchtige Art/ durch die Grösse ihrer Macht unterstützt/ gantz Europa schon längst unter ihre Sclaverey würde gebracht haben/ dafern ihre eigene Misshälligkeiten/ Zwiespalten und innerliche Kriege/ ihre/ vor langen Jahren/ abgezielte Anschläge/ nicht/ von Zeit zu Zeit/ zurücke geworffen […] worden wären." Der Autor entwirft sogar das Bild einer Welt, die zwischen Frankreich und dem Osmanischen Reich aufgeteilt wird: "In Sachen aber und Ausbreitung der vollkommenen Beherrschung sind sie seine Meister [des Türken]/ und trachten ihm/ in seinem Vornehmen auf Europa, vorzubeugen/ und die Oberhand zu behalten/die einige Meister des West=Kayserreiches zu seyn/ gleichwie er in Osten ist."
Unter Berufung auf das berühmte Werk über die Staatsräson aus der Feder des Herzogs von Rohan, De l'Interest des Princes et estats de la Chrestiente (1635), verweist der Autor auch auf die Gleichgewichtsidee und die besondere Rolle Englands im europäischen Mächtekonzert: "Der weltberühmte Prinz und Herzog von Rohan beschliesst/ in seinem kurzen/ doch vortrefflichen Büchlein/ wann er erzehlet das Interesse unterschiedener Fürsten/ daß Englands Interesse sey einen sehr genauen Bilanz zwischen Spanien und Franckreichs Machten zu halten/ und durchaus nicht zuzugeben/ daß einer so groß und vermögend würde/ den anderen unterzudrucken/ und so bald einer den anderen überwäget/ den kleinern wiederum in sein Gewicht empor zu helffen. Und dieses wird ein vornehmer Antheil der alten Hoheit und Tapfferkeit Englischer Nation geschätzt."

(jk)

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