Peter Anthony Motteux [1694]

The Rape of Europa By Jupiter.
A Masque; As it is Sung at the Queens Theatre, in Dorset-Garden. By their Majesties Servants.
London: Printed by M. Bennet, 1694.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Peter Anthony Motteux (1694)", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/peter-anthony-motteux-1694/

Schlagworte: Libretto; Maskenspiel; Mythos;

Fundort: BSB / Z 59.69-208/216

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung bei Motteux

 

A) Kurzbiographie

Pierre Antoine Motteux (auch: Le Motteux, Mottieux) wurde am 25. Februar 1663 als Kind von Hugenotten in Rouen geboren. Über seine Kindheit ist kaum etwas bekannt, doch lassen seine guten Sprachkenntnisse und sein breitgefächertes Wissen auf eine fundierte Ausbildung schließen. Nach der Aufhebung des Edikts von Nantes floh er 1685 nach England, wo er sich in London niederließ und ein Jahr später unter dem Namen Peter Anthony Motteux eingebürgert wurde. Seinen ersten Erfolg in der literarischen Welt Londons erzielte er als Herausgeber und Autor des "Gentleman's Journal", das als eine der ersten monatlich publizierten Zeitschriften zwischen Januar 1692 und November 1694 erschien und sich mit dem zeitgenössischen Theater und der Musik auseinander setzte. Motteux trat seit dieser Periode stark für die Einführung der Oper nach italienischem und französischem Vorbild ein, die ab Mitte der Neunziger Jahre das traditionelle Musikdrama langsam verdrängen und sich schließlich zu Beginn des 18. Jahrhunderts vollends etablieren konnte. Zwischen 1694 und 1708 arbeitete Motteux beständig mit verschiedenen Komponisten, vor allem aber mit seinem Partner John Eccles (1655?-1735) an kleineren Opern, Masken- und Singspielen. Außerdem fungierte er als Bühnenautor und übersetzte Werke von Francois Rabelais ("Gargantua", "Pantagruel") und Miguel de Cervantes ("Don Quixote") in die englische Sprache. In seinem letzten Lebensjahrzehnt zog er sich vom künstlerischen Leben der englischen Hauptstadt zurück und versuchte als Kaufmann im Import-Export-Gewerbe Fuß zu fassen. Motteux starb am 18. Februar 1718 an einem seltenen Erstickungssyndrom in einem Londoner Bordell.

 

Literatur:

  • Manuel du Bibliographie Normand ou dictionnaire bibliographique et historique, T. 2, Rouen 1860, S. 331.
  • The New Grove dictionary of music and musicians, vol. 17, London 2001, S. 231.
  • Cunningham, Robert: Peter Anthony Motteux, 1663-1718: a biographical and critical study, Oxford 1933.
  • Hook, Lucyle: Motteux and the classical masque. In: Kenny, Shirley S. (ed.): British Theatre and the other arts, 1660-1800. London 1984. S. 105-115.

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B) Beschreibung der Quelle

Motteux schreibt das Libretto zum musikalischen Maskenspiel "The Rape of Europa by Jupiter" im Februar 1694. Zu diesem Zeitpunkt setzt die Übergangsphase vom traditionell gesprochenen Musikdrama zur vollständig gesungenen Oper nach italienischem Vorbild ein, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch auf den Bühnen Londons vorherrschend sein wird. Das Maskenspiel stellt seine erste Zusammenarbeit mit dem Komponisten John Eccles (1655?-1735) dar, mit dem er vorwiegend mythologische, aber auch zeitgenössische Inhalte bearbeitet. Auf dem Titelblatt des Musikstückes sind die beiden Urheber nicht namentlich erwähnt, was wohl auf ihren (noch) zu geringen Bekanntheitsgrad zurückzuführen ist. Die Autopsie bezieht sich auf das einzig erhaltene Exemplar eines Aufführungsprogramms, das sich heute in der "Henry E. Huntington Memorial Library" befindet und 1981 von der "Augustan Reprint Society" (beide Institutionen sind in den USA ansässig) als Faksimile (Band 208) herausgegeben wurde. Nur wenige solcher kurzen Musikstücke sind heute noch erhalten. Das die vorliegende Quelle zur Verfügung steht, ist dem Umstand zu verdanken, dass es sich um das Stück eines Sammlers handelt, der die Erstausgabe des Programms zu einem verbilligten Preis am 2. Oktober 1694 [handschriftliche Notizen auf dem Titelblatt; Anm. d. Verf.] erwerben konnte und danach fachgerecht archivierte.
Das Umschlagblatt enthält neben Titel, Gattungsbezeichnung, Aufführungsort, Preis, Verleger- und Vertriebsinformationen auch ein vorgestelltes Zitat, das den "Metamorphosen" des Ovid entnommen ist. Die Rückseite zeigt die originale Besetzungsliste und weist alle Sänger und Tänzer namentlich aus. Anschließend geht eine kurze thematische Erklärung ("Argument") auf den Inhalt des Maskenspiels ein, dessen szenischer Aufbau kurz, klar positioniert und leicht verständlich ist.
Die einzelnen Arien sind im Programm nicht enthalten. Sie konnten größtenteils über den dritten Band des 1695 in London gedruckten "Thesaurus Musicus" recherchiert werden und bilden den Anhang der Reprintausgabe. Die Arie der Europa "Still I'm Grieving" wurde beim Londoner Publikum populär und wurde in mehreren Nachfolgestücken als Begleitmusik verwendet. Anhand verschiedener Rekonstruktionsversuche, die die Aufführungsmaschinerie, die Ausstattung des Theaters und die musikalische Inszenierungshandschrift von John Eccles' berücksichtigten, ergab sich eine ungefähre Aufführungsdauer des Stückes von 25 Minuten. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass "The Rape of Europa by Jupiter" keine unabhängige Aufführung erlebt hat, sondern als Teil eines abendlichen Unterhaltungsprogramms fungierte. Wahrscheinlich diente es als Vorprogramm des Dramas "Valentinian" von John Fletscher, das 1694 in einer Neubearbeitung des Earls of Rochester gezeigt wurde. Inhaltlich ging es in dieser Neufassung ebenfalls um die Schändung einer Jungfrau, die aber nicht auf, sondern hinter der Bühne stattfand und somit der Phantasie der Zuschauer überlassen war. Das Maskenspiel hatte also möglicherweise die Aufgabe, anhand des klassischen und somit unverfänglichen Mythos' von "Europa" einen Akt plastischer darzustellen, der in dem Drama von Fletscher weitgehend nur angedeutet werden durfte.

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C) Europabegriff und -vorstellung bei Motteux

Motteux verarbeitet in seinem Libretto den antiken Mythos der phönizischen Königstochter Europa. Er orientiert sich bei seiner Niederschrift an den "Metamorphosen" des römischen Dichters Ovid und zitiert aus dem Werk bereits auf dem Umschlagblatt. Ein kurz gehaltenes "Argument" soll das Publikum im Anschluss mit der ebenso abgeänderten wie gerafften Geschichte der Europa bekannt machen, bevor das eigentliche Maskenspiel beginnt.
Der König von Phönizien verlangt hierbei von seiner Tochter Europa, einen tyrrhenischen Adeligen zu heiraten, was diese jedoch zurückweist. Sie scheint lieber sterben zu wollen, als sich dem Willen ihres Vaters zu beugen. Nach der familiären Auseinandersetzung zieht sie sich mit einigen Begleitern und Nymphen in eine ländliche Idylle zurück, um sich zu erholen. Dieser Rückzug wird von Jupiter beobachtet, der sich in die Königstochter verliebt und sich zusammen mit seinem Sohn Merkur aufmacht, um Europa zu verführen. Während Merkur dafür sorgt, dass die Gefolgschaft der Prinzessin in einen tiefen Schlaf verfällt, nähert sich Jupiter in Gestalt eines Stiers, lässt Europa aufsitzen und trägt sie auf seinem Rücken "thro' the Hellespont". Am Ziel angekommen vergeht er sich an der Phönizierin, die nach der Tat ihr Schicksal mit den Worten "Confusion, Horror, Death, all come, For in my Ravisht Breast for you is Room" beklagt. Der Gottvater entschädigt sie daraufhin für ihre verlorengegangene Jungfräulichkeit, indem er Europa zu einem Stern am Firmament erhebt und ihr unsterbliche Seligkeit ("And tune her Soul for th'Immortal bliss") voraussagt. Ein Choreinsatz versöhnt die Akteure und beendet schließlich das musikalische Maskenspiel.
Der Begriff "Europa" bezieht sich in dem nach barocken Maßstäben aufgebauten Libretto von Motteux allein auf die mythische Person der phönizischen Königstochter. Der Text enthält keinerlei politische und kaum geographische Bezüge. Selbst die Insel Kreta als Ziel der Entführung wird nicht genannt und das Publikum erfährt nur aus der vorangestellten Übersicht, dass es sich um einen Ort in Griechenland handeln muss. Allerdings erinnert Europas finale Wiedergeburt als "neuer" Stern am Firmament an den althergebrachten Gedanken, dass durch ihre Entführung der "neue" Kontinent "Europa" aus dem "alten" Kontinent "Asien" hervorgegangen sei bzw. eine signifikante Machtverlagerung stattgefunden habe, die als "Geburt Europas" bezeichnet werden könnte.

(rf)

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