Sincerus Teutonicus [1686]

Europæisches Curioses Staats=Gespraech Unterschiedlicher Christlicher als Unchristlicher Nationen; Den bereits vergangenen/ als noch künfftigen Tuercken=Krieg betreffend: Auch Warumb Pohlen seinen angefangenen Eifer so bald fallen lassen; Und Was man endlich bey so guten Progressen in Ungarn sich an Seiten Franckreichs zu versehen habe.

Mit nachdencklicher Feder beschrieben Von Sincero Teutonico.

[s. l.] Anno M. DC. LXXXVI.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Sincerus Teutonicus (1686)", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/sincerus-teutonicus-1686/

Schlagworte: Christenheit; Diskurs; Frankreich; Streitschrift; Türkenkrieg; Ungarn;

Fundort: BSB / Res / 4 Turc. 91,22

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung bei Sincerus Teutonicus


A) Kurzbiographie

[Das Pseudonym "Sincerus Teutonicus" ("der aufrechte, wahrhafte Deutsche"), welches in verschiedenen Pseudonymenlexika aufgeführt wird, konnte in der Forschung bisher nicht zugeordnet werden. Es liegen darüber hinaus keine weiteren Schriften vor, die unter dem genannten Pseudonym publiziert wurden.]

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 B) Beschreibung der Quelle

Die vorliegende Quelle erscheint im Jahr 1686 anonym, ohne Angabe eines Druckortes und ohne Nennung des Verlegers und besteht aus einem schmucklosen Titelblatt sowie 51 teilweise falsch nummerierten Seiten. Der Verfasser berichtet in 28 knapp gefassten Kapiteln über den Stand des augenblicklichen Türkenkrieges und bedient sich dabei der literarischen Form des Streitgespräches, um seine Ursachen, seinen Verlauf und die mögliche Zukunft ganz Europas darzulegen: "Die Zeit=Curioesen seynd gemeiniglich so geartet/ daß sie nicht nur von gegenwaertigen und vergangenen/ sondern auch zukuenfftigen Welt=Haendeln verschiedenen weitlaeufftige Fragen aufzuwerffen/ und darüber mancherley Judicia oder Meinungen zu eröffnen pflegen; Wie etwan bißhero von denen Kriegs=Operationen und Conjuncturen in Europa/ zumalen bey dem nunmehro fast verstrichenen Feld=Zuge dergleichen Materie sich viel ereignet hat: Wovon und was kuenfftig noch bey diesem Kriegs Spiel in Europa zu hoffen/gegenwaertiger Discours angestellet wird."
Das Streitgespräch findet zwischen einem Deutschen, einem Franzosen und einem Spanier statt, zu denen sich im Laufe der Schrift noch ein Holländer und ein Türke hinzugesellen. Der diesjährige Feldzug der christlichen Truppen in Ungarn ist fast beendet und ein Resümee scheint allen Beteiligten angebracht. Behandelt wird die bisher verfolgte Kriegstaktik des christlichen Heeres und so wird der Verlauf aller kriegswichtigen Belagerungen, Schlachten und Befreiungen dem Leser noch einmal nachhaltig in Erinnerung gerufen. Der Entsatz Wiens kommt hierbei ebenso zur Sprache wie die Geschehnisse um die Festung Neuhäusl, Gran, Raab oder Buda/Ofen. Schließlich herrscht ein gewisses Einvernehmen darüber, dass das Schicksal der Christenheit - und damit einhergehend das Schicksal Europas - auf dem ungarischen Kriegsschauplatz nachhaltig zur Entscheidung gebracht wird. Doch schon der erfolgreiche Auftakt des 5. Türkenkrieges im Jahr 1683 lässt die christlichen Gesprächspartner vermuten, dass die Wende im jahrhundertealten Ringen zwischen dem Christentum und dem Islam bereits vollzogen worden ist. Verbreiteten die muslimischen Armeen noch in der letzten Auseinandersetzung der Jahre 1663/64 Angst und Panik, so kann man in der gegenwärtigen Situation kaum mehr etwas davon spüren, was der Deutsche auch in kraftvollen Worten zusammenfasst: "Dannenhero habt ihr anjetzo in Warheit keine Ursach/ viel Glorirens von euren Ottomannischen Waffen und unueberwindlichen Groß=Herrn zu machen/ wie ihr und er selbst wol ehe zu thun/ ja in oeffentlichen Fehde=Briefen zu ruehmen pfleget/ als ob sich viele Potentaten/ ja die gantze Welt vor ihm fuerchten und entsetzen mueßten; Ich meine aber nur die Teutschen und ein Theil Polacken/ haben sich bey Wien trefflich vor ihme entsetzet/ indem sie den schnaubenden Hunds=Kopff dermassen an beiden Ohren gezwacket/ dass er Haare genug lassen/ und mit hinckenden Beinen davon trollen muessen."
In diesem Zusammenhang offenbart sich, warum der Autor das Pseudonym "Sincerus Teutonicus" gewählt hat, denn die Taten der reichsdeutschen Truppen stehen merklich im Vordergrund der Streitschrift. Von allen Mitgliedern der Heiligen Allianz scheinen ihm ihre Taten im Kampf gegen das Osmanische Reich am bedeutensten zu sein. Der Deutsche gibt sich daher zuversichtlich, dass Kaiser und Reich auch die zweite große Herausforderung bewältigen können, die in der Zurückschlagung französischer Truppen entlang des Rheins besteht. Das Handeln der Franzosen erscheint ihm besonders verwerflich, weil sie nicht nur ihrer Christenpflicht, die im Kampf gegen die Türken besteht, nicht nachkommen, sondern auch in Kauf nehmen, dass ihr Vorstoß die eigenen Glaubensbrüder schwächt und somit in Gefangenschaft und Unterdrückung, ja sogar in den Tod treibt. Durch die unnatürliche, da gegen die Religion gerichtete Allianz mit den Türken darf auch dem westlichen Nachbarn kein Pardon gegeben werden. Der Kampf entlang des Rheins, selbst wenn er in der Streitschrift nur zweitrangig abgehandelt wird, erhält daher die gleiche schicksalhafte Bedeutung wie der Kampf entlang der Donau.

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C) Europabegriff und -vorstellung bei Sincerus Teutonicus

Der Verfasser versteht unter dem Begriff "Europa" den, geographisch nicht definierten, Hort der Christenheit. Im Zuge der langen Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich musste der ursprünglich zur Gänze christliche Weltteil zwar große Teile wie Griechenland und Ungarn dem Herrschaftsbereich des Islams überlassen, doch änderte diese Entwicklung nichts an der Tatsache, dass die Termini "Christenheit" und "Europa" untrennbar miteinander verbunden sind. Konfessionelle "Grenzen" spielen in seinen Überlegungen hingegen überhaupt keine Rolle, da "Sincerus Teutonicus" stets mit dem begrifflichen Gegensatzpaar "Christen" und "Muslime" argumentiert ohne weiter zu differenzieren.
Die besetzten - und religiös unterdrückten - Gebiete konnten ihren christlichen Status in seinen Augen aber immer bewahren, weil ihre seit dem Mittelalter betriebene Einverleibung in das Türkenreich nur durch Gewaltanwendung, nicht aber durch einen Glaubensübertritt möglich gemacht wurde: "Dannenhero duerffte es mit euch aberglaeubischen und tollkuehnen Muselmaennern/ die ihr bishero mit euren rauberischen Waffen die gantze Welt trotzen/ endlich gar kahl und stinckend ablauffen/ welches Prognosticon man euch billig stellen muß; Dann erstlich muesset ihr selbst gestehen/ dass euer Reich ein Imperium violentum, und durch gewaltsame Mittel aus vielen widrigen Voelckern und Laendern zusammen gezogen sey/ welches in die Laenge keinen Bestand haben/ sondern ehe ihr es vermeinet/ wie alle Regna violenta wieder zerfallen/ oder doch in grossen Decadenz kommen wird." Dieser Argumentationspunkt lässt sich in der zeitgenössischen Literatur häufig nachweisen, doch führt er nicht immer zu den gleichen Schlussfolgerungen. So wird beispielsweise in dem Abenteuer- und Reiseroman "Der Erneuerte Europaeische Toroan" (vgl. Eberhard Werner Happel 1689) darauf hingewiesen, dass das Osmanische Reich einerseits zwar durchaus "europäisch" (z. B. durch seine partiell zugehörige geographische Lage) sei, aber andererseits durch seinen gewaltsamen Charakter nicht zu "Europa" gehören könne, da hier Reiche nur durch friedliche Rechtsakte (wie Heirat und Erbschaft) zustande kommen und weitergegeben werden können. Derartige Abstufungen und Nuancierungen sind "Sincerus Teutonicus" jedoch fremd. Der gegenwärtige Kampf zwischen "Christen" und "Muslimen" entspricht dem Kampf "Europas" gegen die "restliche Welt" und wird auch nur auf dieser reduzierten Ebene in der Streitschrift ausgetragen.
Letztendlich scheint für ihn noch von Bedeutung, dass das deutsch-römische Reich die Hauptlast in diesem Kampf trägt, was im Werk durch eine patriotisch gefärbte Sprache auch zunehmend offensichtlich wird. Inwieweit hierbei aber das traditionelle Bild des Kaisers, der im Gespräch der fünf Länderrepräsentanten mehrmals angesprochen wird und als Haupt des christlichen Reiches - und damit "Europas" - eine wichtige Rolle spielt, von Bedeutung ist, kann dahingegen nicht beantwortet werden.

(rf)

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