Anonym [1689] "Fama"

Die Saussende Fama,
Oder Wiederschall Der Europäischen Kabinetten/
Von Gegenwärtigen so wohl als zukünfftigen Zustand aller Europäischen Königreichen und Staaten/ hell und gerecht erschallend/ in welchen viel wundersame Staats=Veränderungen von dem ehrlichen deutschen Gemüth vorgesagt werden.
[S. l.] Gedruckt im Jahr 1689.

Zitierweise: Josef Köstlbauer: Quellenautopsie "Anonym (1689) Fama", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1689-fama/

Schlagworte: Allegorie; Europa deplorans; Flugschrift; Frankreich; Heiliges Römisches Reich; Körper; Mythos; Prophezeiung; Weltordnung;

Fundort: ÖNB / 33.K.93.

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

 

A) Kurzbiographie

[Anonymer Verfasser]

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B) Beschreibung der Quelle

Dieses 1689 ohne Angabe von Autor, Verleger und Druckort erschienene schlichte Bändchen ist der im 17. Jahrhundert weit verbreiteten Spezies der Flugschriften zuzuordnen. Es umfasst ein Titelblatt, 39, nicht durchgehend nummerierte, Seiten und enthält weder ein Frontispiz noch irgendwelche Abbildungen. Auch Vorwort oder Widmungen fehlen.
Der Inhalt des Werkes gliedert sich in zwei Teile. Im ersten schildert und kommentiert der anonyme Autor Ereignisse der 1680er Jahre, wobei die politischen Konstellationen in dem vom Antagonismus zwischen Frankreich und dem Haus Österreich geprägten Europa im Vordergrund stehen. Das geschieht in Form kurzer Meldungen aus verschiedenen europäischen Regionen ("Wiederschall aus [...]", "Zeitung aus [...]"). Nicht alle Nachrichten aber beschäftigen sich mit konkreten Ereignissen, sondern es findet sich auch eine Serie fiktiver Kurzberichte über das Wohlergehen der mythologischen Europa, die hier den Kontinent bzw. seine Staaten und Völker verkörpert.
Im zweiten Teil der "Saussenden Fama" wendet der Autor seinen Blick in die Zukunft und versucht das Schicksal der europäischen Mächte zu prophezeien. Um die Verlässlichkeit dieser Voraussagen zu bekräftigen verweist er gleich zu Beginn des Bandes auf ein ähnlich geartetes Vorläuferwerk, das angeblich die Ereignisse seit dem Jahr 1683 korrekt vorhersagte. Es handelt sich dabei mit großer Sicherheit um das 1684 (ebenfalls anonym) erschienene dreibändige Werk "Wieder-Schall des frantzösischen Cabinets aus dem klingenden Pallast der sausenden Fama. Worinnen die Anschläge der frantzösischen Cron in allen europäischen Höfen, wie sie seither dem Niemwegischen Frieden geschehen, und theils zu Wasser worden sind, vernommen werden.", das nach eigenen Angaben in Konstantinopel verlegt worden ist. Dieses Werk ist im Unterschied zur vorliegenden Quelle in mehreren deutschsprachigen Bibliothekskatalogen aufgeführt. Ob beide Schriften auch tatsächlich aus derselben Feder stammen, konnte nicht festgestellt werden.
Die insgesamt sieben Prophezeiungen beinhalten zwei grundlegende Vorhersagen: Frankreich wird gedemütigt werden und in seinem hegemonialen Streben scheitern, während das Heilige Römische Reich unter der Führung des Hauses Österreich zu Einigkeit finden und den ersten Platz unter den europäischen Mächten einnehmen wird.
Unübersehbar ist der anti-französische Grundton der "Fama". Der Autor interpretiert die politischen Ereignisse der Zeit im Wesentlichen als eine Serie perfider französischer Anschläge auf Frieden und Glück Europas. Einem weitverbreiteten Klischee entsprechend erscheint der französische König Ludwig XIV. als gewissenloser, von Launen beherrschter Potentat, getrieben von Ruhmsucht und unköniglicher Gier. Als Beispiele nationaler (oder: ludovizianischer) Hybris dienen unter anderem Frankreichs Versuche, Einfluss auf die internen Angelegenheiten des Reiches zu nehmen, der Plan, Genua zur Sperre seines Hafens für spanische Schiffe zu zwingen und die Vertreibung der französischen Protestanten. Dabei verweist der (mutmaßlich protestantische) Autor mit deutlicher Genugtuung auf den wirtschaftlichen Schaden, den Frankreich durch seine 1685 (Revokationsedikt) einsetzende Vertreibungspolitik erlitt und den Vorteil, den gerade deutsche Staaten aus der Aufnahme der Flüchtlinge zogen.
Am Schluss der "saussenden Fama" steht eine Auflistung der "Praetensiones der Christlichen Potentaten auff die usurpirende Cron Franckreich", in der dem Leser noch einmal alle Untaten Frankreichs vor Augen geführt werden.

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C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers

Die "Saussende Fama" ermöglicht in mehrfacher Hinsicht, Rückschlüsse auf zeitgenössische Vorstellungen von Europa zu ziehen.
Aus den verschiedenen Meldungen lässt sich ein geographisches Bild Europas rekonstruieren, das von der iberischen Halbinsel bis "Pohlen/Moscau und Tartarey" reicht. Zusätzlich verwendet der Autor die Dreiteilung in "Occident", "Mittag" und "Orient".
Nicht untypisch für das Jahrhundert ist auch der vom Autor verwendete Topos der Europa deplorans. In mehreren fiktiven Meldungen aus verschiedenen Regionen wird über Erkrankungen der Europa informiert: Aus dem "Pyrrheneischen Gebürg" wird gemeldet, Europa sei am Haupt erkrankt, aus England dringt die Kunde, die Patientin habe ein Brustleiden, aus Schottland berichtet man von Schmerzen am linken Arm usw. Diese fiktiven Krankheitsberichte lassen sich nicht in jedem Fall mit aktuellen politischen Krisen gleichsetzen, doch es ist eindeutig, dass die Leiden der Europa den Unfrieden und die Wirren in den europäischen Staaten repräsentieren.
Dieses Bild vom weiblichen Körper der Europa, an dem sich Krieg und Frieden in Form von Krankheit bzw. Glück und Gesundheit manifestieren, impliziert die Vorstellung von einer engen Zusammengehörigkeit der europäischen Nationen, denn sie fügen sich als einzelne Glieder zu einem Körper zusammen. Das korrespondiert mit der impliziten Vorstellung von Europa als einem von Tradition und göttlicher Bestimmung begründeten System der christlichen Reiche bzw. Souveräne. Auch die medizinischen Heilmittel, welche die Leiden der Europa kurieren, sind aufschlussreich: "Sal Catholicon", "Österreichischer Saffran" oder "Spiritus Jovis aus Groß=Britannien". Hingegen soll sich die hohe Patientin von den "Frantzösischen hitzigen Weinen auff das äusserste enthalten."
In den Prophezeiungen hingegen kommt eine dezidiert politische Europavorstellung zum Ausdruck. Nicht nur, dass gleich mehrfach der baldige Fall Frankreichs vorausgesagt wird, der Autor knüpft auch an den biblischen Topos der "Reichelehre" an und erklärt das Heilige Römische Reich zum letzten und bis zur Wiederkunft Christi bestehenden Reich ("wie das Haus Oesterreich biß an der Welt Ende werde bestehen"). Besonders ins Auge sticht dabei die Verherrlichung Deutschlands und der Deutschen, der in dieser Quelle mit sehr starken Worten Ausdruck verliehen wird: "Kennest du nicht die Deutschen/ welche Alexandro dem Grossen geantwortet? Sie fürchteten nichts/ als es möchte der Himmel auff sie fallen. Ist es diese Nation nicht/ welche die Römer/ so die gantze übrige Welt unter dem Joch hatte/ für unüberwindlich hatten erfahren/ erkennen und erklären müssen? Giebt es die Vernunfft nicht durch das Lager/ die Beschaffenheit und alle Eigenschaften/ kurtz zu sagen/ alle Umbstände/ das Deutschland unüberwältiget verbleiben werde. Deutschland ist mächtig durch dessen Lager/ durch die mächtigen Ströhme/ das Meer/ die Berge/ die Wälder/ und dessen Weitläufftigkeit. Deutschland ist mächtig/ und mächtiger dann alle andere Reiche und Länder/ durch die angebohrne Tapfferkeit dessen Nation/ anerwogen/ der deutsche Soldat alle Soldaten deß gantzen Erdbodens in Tapfferkeit und Härte übertrifft. [...] Welchem Reich die Immerwährung in der Himmlischen praedestination abgesprochen ist/ deme hilfft weder hohe Staats=Weisheit / weder Witz/ Verstand/ Macht/ Geld/ und Vestung." Die frappanten Ähnlichkeiten mit der nationalistischen Diktion des 19. und 20. Jahrhunderts dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier unter "Deutschland" in erster Linie das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu verstehen ist!
Hier tritt die Vision eines hierarchisch gegliederten zukünftigen Europa zutage, die gekennzeichnet ist vom wiederhergestellten Primat des Kaisertums und von der hegemonialen Stellung Deutschlands. Als Legitimation dient himmlische Prädestination und die moralische und kriegerische Überlegenheit der Deutschen.
Als einziges Hindernis für Restauration und Aufstieg des Reiches empfindet der Autor die Uneinigkeit der deutschen Fürsten: "Deutschland ist und bleibet Deutschland/ und kan keine Noth leyden/ als durch dessen eigene Nation/ und innerliche Auffruhr: Aber Einigkeit/ Treu/ Glauben und Beständigkeit sind dessen stärckeste Wehre und sicherste Waffen." Auch das ist ein in zeitgenössischen Schriften durchaus verbreiteter Topos.
Besonders skurrile Formen nehmen die Begeisterung für Deutschland und die anti-französischen Ressentiments in der "Propheceyung wider die Frantzösische Heyraths=Alliantzen" an. Der Verfasser fürchtet die unziemliche Einmischung der Damen in die Staatsgeschäfte und ihre fortgesetzte Treue zum Land ihrer Herkunft. Sie sind sozusagen Frankreichs trojanische Pferde an den deutschen Höfen. Hingegen bewirbt er überschwenglich die Qualitäten der deutschen Prinzessinen: "Teutschland prangt ohne Widersprechung/ mit den Sitt= und Tugentsambsten/ liebreichsten/ Gottsfürchtigsten und demütigsten Princessinen von der Welt/ welche einfältig sind wie Tauben/ und listig wie die Schlangen/ welche die Schuhe können an die Wand nageln/ exemplarischen Lebens sind/ wahre Tugend=Spiegel/ und aller Laster Vertilgerin/ diese Princessine sind von gewüntschter Mässigkeit/ sehr sittsamb und Moderat, warumb dann sollen sich die Deutsche Fürsten/ durch Vermählung mit dem Frantzösischen Geblüt vermischen?"

(jk)

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