Europäischer Staats=Rath/
Oder Gründlicher Bericht Wie sich Die Hohen Potentaten in Europa Gegen Die Monarchische Einbildungen des Königes in Franckreich zu verhalten haben.
[s. l.] Gedruckt im Jahr 1690.
Zitierweise: Alexander Wilckens: Quellenautopsie "Anonym (1690) Staats=Rath", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.).
https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/anonym-1690-staatsrath/
Schlagworte: England; Frankreich; Streitschrift; Universalmonarchie; Wilhelm III. von Oranien;
Fundort: ÖNB / 20.Dd.235
A) Kurzbiographie | B) Beschreibung der Quelle | C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers |
[Anonymer Verfasser]
Bei der Quelle handelt es sich um eine politische Streitschrift, die sich gegen die Hegemonialpolitik Frankreichs richtet. Entstanden nach dem vollen Ausbruch des Pfälzischen Erbfolgekrieges, ermahnt sie die christlichen Potentaten zur Einigkeit gegen Frankreich und stellt England, nunmehr unter der vom Verfasser betonten rechtmäßigen Herrschaft Wilhelms III. von Oranien, als die entscheidende Gegenmacht zu den Ambitionen des französischen Königs dar. Die Quelle umfasst neben dem Titelblatt und einer "Vorrede An Den Geneigten Leser" 15 Kapitel, die sich auf 68 unnummerierte Blätter im 4° Format erstrecken.
Der anonym gebliebene Verfasser bietet dem Leser in der Vorrede ausführliche Auskunft über den Inhalt des Traktates. Im Gegensatz zur Zeit der Kardinäle Richelieu und Mazarin sei nun die Politik Ludwigs XIV., sein großes "Dessein", völlig durchschaubar. Die ganze Welt wisse, dass dieser König "aus gantz keiner anderen Ursache so vielerley pretensions auf das H. Römische Reich/ und die Königreiche Spanien erdacht hat/ als daß er hierdurch gleichsam als auf sichern Staffeln zu einer Universal Monarchie der gantzen Christenheit gelangen möge". Dazu bediene er sich dreierlei Mittel: Er bemühe sich, die christlichen Potentaten und an erster Stelle die Fürsten des Heiligen Römischen Reiches voneinander zu trennen, dem König in England zu schaffen zu machen und ihn auf seine Seite zu bringen, wohlwissend, dass "kein Potentat in Europa ihm mehr schaden könte/ als eben dieser", und schließlich unterhalte er an allen Höfen seine "Creaturen und Pensionaires", die für seine Interessen agieren sollen. Um der Gefahr einer solchen Politik zuvorzukommen, will der Verfasser "einige Mittel und Wege/ wie sich Christl. Potentaten bey solchem Fall zu verhalten" haben, vorlegen. Diese fasst er in fünfzehn, den Kapiteln der Streitschrift entsprechenden Punkten zusammen.
Im ersten Kapitel wird für die Einigkeit der christlichen Fürsten plädiert, die nur gemeinsam Frankreich bezwingen und die vom französischen König nach dem Pyrenäenfrieden gemachten Eroberungen zurückerlangen könnten. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Übermacht eines Fürsten die "Ratio Status", die Zusammenarbeit der anderen Fürsten erfordere, "um seinen übermuth zu dämpffen/ oder doch zum wenigsten/ zu verhindern/ daß er nicht grösser werde". Als Belege dienen dem Autor Karl V. und Ferdinand II., zu deren Zeiten die anderen Fürsten eine Allianz mit Frankreich eingingen, um eine Universalmonarchie des Hauses Österreich zu verhindern. Genau wie Ferdinand II. sich damals des Vorwandes bedient hatte, die Ketzer auszurotten, "damit die Catholischen Fürsten sich ihme nicht entgegen setzen/ und an seinen Vorhaben verhinderlich seyn möchten", so biete der französische König nun an, "umb die Catholische[n] Fürsten und Stände einzuschläffern", mit großer Sorgfalt und Mühe "nicht allein die Protestanten in seine[m] Reich/ sondern auch in andern Ländern zu ruiniren". Damit sei klar, dass Frankreich nach der Universalmonarchie trachte, so dass die anderen Fürsten angehalten werden, "dergleichen Verbündnisße auf[zu]richten/ Franckreichs Progressen hiedurch zurücke zu halten/ seinen übermuth zu däampfen und zu verhindern/ damit es andere Suveraine Fürsten und Herren nicht so übel als bishero geschehen/ tractiren möchte".
Die Uneinigkeit der christlichen Fürsten und vor allem der Friede von Nimwegen sind für den Verfasser die Ursachen "alles des Jammers und Elends/ welches hernach der Christenheit zugestossen" (Kap. II) ist. Der Devolutionskrieg (1667/68), der Niederländisch-Französische Krieg (1672-1678) und die Reunionspolitik der französischen Krone haben gezeigt, wie Frankreich das Ius Gentium, alle Friedensverträge und Waffenstillstände systematisch gebrochen hat, so dass man sich mit Ludwig XIV. auf keine weiteren "Tractaten" einlassen sollte, um nicht weiterhin betrogen zu werden (Kap. III). Das Stiften von Zwietracht unter den christlichen Potentaten, das Brechen jeglicher Rechte und Friedensabkommen und das Handeln als bereits gekrönter Universalmonarch ("indem er andere Christliche Fürsten und Republiqven tractiret/ als wenn es seine Unterthanen wären; ihnen auch wohl gar in Ihren Ländern Gesetze vorschreibet/ und haben will/ daß sie sich alle seinem Willen unterwerffen sollen/ im Gegenfall bedrohet er sie/ entweder mit Krig/ oder daß er ihnen sonsten zu schaffen machen wolte"; Kap. IV) sind Teil der Mittel und Wege des allerchristlichsten Königs, um sich auf den Thron der Universalmonarchie über die ganze Christenheit setzen zu können. Das hierfür entwickelte Projekt (siehe Abschnitt C), das nicht einmal den Papst verschont, fußt auf den ludovizianischen Ansprüchen auf das Reich sowie auf die Länder des spanischen Königs, die in eigenen Kapiteln (Kap. V und VI) behandelt und als unberechtigt dargestellt werden. Gegen die daraus resultierende "Despotische Tyrannische Regierung" haben die europäischen Fürsten gute Gründe zum Widerstand. Bei der Erörterung der Interessen der einzelnen Potentaten, die gegen Frankreich gerichtet sind und eine gerechte Sache bilden (Kap. VIII bis X), bringt der Verfasser dieselben Argumente und Beispiele hervor, welche zuvor die Unrechtmäßigkeit der französischen Ansprüche untermauerten. Die Schrift weist in diesem Punkt eine mehrmalige Wiederholung der Argumentationslinien auf. Das gilt auch für die letzten fünf Kapitel, die ausführlich über die Veränderung des Jahres 1688 in England und die Erhebung Wilhelms von Oranien zum König berichten. Nach der Beschreibung der Ursachen und des Verlaufs der englischen Revolution zeigt der Verfasser den daraus entspringenden Vorteil für die christlichen Fürsten und Stände: England werde nun Frankreich in die Schranken weisen und die christlichen Fürsten werden alle "ihre Rechte/ Freyheiten und Privilegien/ die ihnen Franckreich mit Gewalt entrissen/ wiederumb erlangen" können. Die Religion wird nicht mehr Deckmantel für territoriale Ambitionen sein, da Wilhelm von Oranien zwar "gut protestirend ist/ so ist er doch derer Catholiqven Feind nicht", so dass die anderen katholischen Fürsten durch ihn keinen Nachteil haben werden. Gegen Frankreichs Versuche, durch Spione und "Scribenten" den neuen englischen König zu diskreditieren, zeigt der Urheber der Streitschrift, dass die Expedition des Prinzen von Oranien in England kein Religionskrieg gewesen ist. Die Schrift endet mit der Verteidigung des neuen Königs, der kein angemaßter, sondern ein rechtmäßiger Herrscher Englands sei, da er im Unterschied zu dem abgesetzten Jakob II. die wahren Interessen der Krone (die protestantische Religion zu bewahren, die Gesetze über die Ausschließung der Katholiken aus öffentlichen Ämtern zu befolgen, mit den Holländern gemeinsame Sache zu machen, damit sie Herren aller Meere werden, das Gleichgewicht zwischen Frankreich und dem Haus Österreich zu halten und somit Schiedsrichter von ganz Europa zu sein "und Frieden unter denen Christl. Potentaten zuunterhalten") zu vertreten wisse.
C) Europabegriff und -vorstellung des anonymen Verfassers
Der Urheber der Streitschrift versteht unter dem Terminus "Europa", den er meist mit "Christenheit" gleichsetzt, zunächst in allgemeiner Weise die Summe der christlichen Monarchien, Fürstentümer und Republiken des Kontinents. Diese Summe nimmt in Bezug auf die Hegemonialbestrebungen Frankreichs eine konkrete Gestalt an, als der Verfasser über das französische "Project" zur Errichtung einer Universalmonarchie berichtet, das folgendermaßen aussieht: Ganz Europa werde von den Ansprüchen des französischen Königs auf das Heilige Römische Reich als Nachfolger Karls des Großen und auf die Territorien des Königreichs Spanien als vermeintliche Erbschaft des französischen Dauphin bedroht. "Alleine Wenn Franckreich Meister von dem Reich und denen Ländern des Königes in Spanien ware/ wie es durch Macht und List zu solchem Zwecke zu gelangen strebet/ so hette es zwey drittheile der Christenheit weg/ und müste sich das dritte/ es wolle oder wolle nicht/ seiner Herrschafft nothwendig unterwerffen". Alle italienischen Fürsten und Stände einschließlich des Papstes würden dann leicht zu Untertanen gemacht werden können, Portugal könnte sich ebenfalls nicht lange halten und auch die Schweizer wären nicht in der Lage, das französische Joch lange abzuwehren. Frankreich würde Spione nach England schicken, die nach der Auslösung eines inneren Krieges trachteten, und auch Holland wäre nicht fähig, seiner Macht zu entgehen. Schließlich würden die alten Feindseligkeiten zwischen Dänemark und Schweden beide Königreiche in Frankreichs Hände liefern. "Wenn nun Polen alleine übrig wäre/ so müste es nothwendig entweder Frankreich unterthänig/ oder [der] Ottomanischen Pforte tributbar werden". "Europa" erstreckt sich somit von Polen bis Portugal und von Italien bis Schweden. Russland wird im Text nicht erwähnt.
Diese politische Konzeption eines christlichen Europas, das von den universalmonarchischen Absichten Frankreichs bedroht ist, wird durch die sich anbahnende Gleichgewichtsidee ergänzt (siehe Anonym [1681] "Slave" und Anonym [1689] "Interests"). England steigt hier nach der Glorreichen Revolution zur entscheidenden Macht im europäischen Mächtegefüge empor, das nicht nur Frankreich und das Haus Österreich in Balance halten, sondern ganz Europa den Frieden bringen soll.
"Europa" als "Christenheit" im Sinne einer spirituellen bzw. religiösen Wertegemeinschaft spielt nur eine untergeordnete Rolle im Text. Zwar wird auf das Problem der konfessionellen Kämpfe und der vor allem gegenüber Frankreich schwindenden Macht des Papstes eingegangen und die Feindschaft mit den Türken kurz angesprochen, aber eine tiefergehende Thematisierung religiöser Aspekte kommt in der Streitschrift nicht vor. Die Deckungsgleichheit der Termini "Europa" und "Christenheit" wird hauptsächlich im machtpolitischem Sinne gebraucht.
(aw)