Eberhard Werner Happel [1689]

Everhardus Gvernerus Happelius:
Der Erneuerte Europaeische Toroan, Ist Eine kurtz-bündige Beschreibung/ Aller Königreiche und Länder in gantz Europa, Ihren Regenten/ Geschichten/ und was zur Wissenschafft eines jeglichen Staats gehöret; Welches alles auß jeden Landes besten Historicis getreulich zusamen gezogen/ Und In einer Christlich=Türckischen Helden= und Liebes=Geschichte leß=würdig fürgestellet; Unjetzo aber/ nach Abgang der ersten Edition, aufs Neue herauß gegeben/ und durch Einführung vieler merck=würdigen Veränderungen continuirt/ und zugleich die in erster Edition eingeschlichene Fehler corrigiret hat.
Franckfurt [Main]/in Verlegung Matthaei Wagners/ 1689.
[Erste Ausgabe: Der Europaeische Toroan, Hamburg 1676.]

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Eberhard Werner Happel (1689)", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/eberhard-werner-happel-1689/

Schlagworte: Reisebericht; Roman; Türkenkrieg;

Fundort: BSB / Eur. 1016 i

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung bei Happel

 

A) Kurzbiographie

Eberhard Werner Happel wurde am 12. August 1647 als Sohn eines lutherisch reformierten Pfarrers im hessischen Kirchhain geboren. Er studierte zwischen 1666 und 1669 in Marburg und Gießen Rechte und Naturwissenschaften, doch zwang ihn seine unzulängliche finanzielle Lage immer wieder, sich bei verschiedenen Familien in Hessen und Hamburg als Hofmeister und Hauslehrer zu betätigen. Ohne akademischem Titel blieb ihm ein Hofamt versagt, so dass er sich 1680 entschloss, eine literarische Karriere als freier Schriftsteller einzuschlagen. Bereits 1666 hatte er damit begonnen, Romane zu schreiben, doch erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt fertigte er Jahr für Jahr etwa ein- bis zweitausend Seiten schöngeistiger Literatur im zeitgenössischen Stil an.
Neben geographisch-historischen Relationen und Kompilationen dominieren in seinem Werk spätbarocke Geschichtsromane, in denen er galante Liebes- und Heldengeschichten mit zeitbezogenen Fakten, Theorien und Vermutungen verknüpfte. In diesem Zusammenhang ist der Zyklus "Europäische Geschicht-Romane" hervorzuheben, der zwischen 1685 und 1694/1710 vom Ulmer Druckhaus Matthäus Wagner publiziert wurde und bisher kaum Beachtung in der Forschung fand. Nachhaltige Bedeutung bewies schließlich vor allem sein historisches und realienkundliches Kompendium "Relationes Curiosae", das in mehreren Bänden zwischen 1683 und 1691 veröffentlicht wurde und einen gewissen Einfluss auf die Lexikographie des 18. Jahrhunderts ausübte.
Happel hielt sich bei seiner Unterhaltungsliteratur fast ausschließlich an das vorgegebene Gerüst des traditionellen Heldenromans, doch scheinen die abenteuerlichen Irrfahrten und überraschenden Fügungen des Schicksals oft recht nachlässig konzipiert worden zu sein. Trotz dieses Mangels müssen Happels Romane von einem treuen Publikum eifrig gelesen worden sein, da sie partiell in mehreren Auflagen existieren. Der Schriftsteller und Historiker starb am 15. Mai 1690 in Hamburg und hinterließ seine Ehefrau Margaretha und vier Kinder.

 

Literatur:

  • Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 4, S. 379.
  • Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, S. 644 f.
  • Lock, Gerhard: Der höfisch-galante Roman des 17. Jahrhunderts bei Eberhard Werner Happel. Würzburg 1939.
  • Schuwirth, Theo: Eberhard Werner Happel (1647-1690), ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts. Diss. Marburg 1908.

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B) Beschreibung der Quelle

Happels galanter Abenteuerroman ist in zwei Bände unterteilt, wobei jeder Band wie ein Bühnenwerk in verschiedene Akte (24 und 27 Hauptstücke) aufgegliedert wird. Bevor der Leser zum eigentlichen Romaninhalt vordringt, klärt ihn der Autor auf, warum der Titelheld zum zweiten Mal seine Abenteuer erlebt. In seiner Vorrede stellt Happel fest, dass alle irdischen Dinge wie die Natur, der Stand des Menschen oder das Aussehen einer Stadt einem stetigen Wandel unterliegen. Doch wenn schon hierbei merkwürdige Veränderungen festgestellt werden können, welche Veränderungen betreffen dann erst Länder, Königreiche oder sogar Weltteile wie Europa.
Der europäische Weltteil besitzt in diesem Zusammenhang für den Autor einen besonderen Stellenwert, weil "seit vier oder fünff Jahren warlich mit den Türckischen und anderen Ländern und Regierungen/ eine merckliche Veraenderung in EUROPA fürgefallen [ist]". Vor allem der Respekt vor dem vormals als unüberwindlich eingestuften, "Blut=durstigen Tuerken=hund" sei merklich gesunken, da er jetzt von der christlichen Gemeinde auf dem Feld geschlagen werden könne. "Jetzo heisset es: Christiani invincibiles, die Christen seyn unueberwindlich/ und die Tuercken hingegen verlauffen gantze König=reiche und Länder." Um "unserm lieben EUROPA zu Gefallen" sei der Roman seit der ersten Auflage "an vielen Orten corrigiret/ und die Regiments=Geschichte eines jeden Landes von Anno 1674 biß hieher erweitert/ und continuiret" worden.
Happel stellt den Titelhelden Toroan als mutigen und ehrenvollen Jüngling dar, der über seine Reiseerlebnisse erzählt, die ihm auf einer langen und oft in seltsam verschlungenen Bahnen verlaufenden (Kavaliers-)Tour (?) durch Europa zugestoßen sind. Seine Schilderung umfasst dabei nicht nur aktiv er- und durchlebte Episoden, sondern sie speist sich ebenso aus den nacherzählten Erlebnissen seiner Gastgeber bzw. anderer Reisender, auf die er an vielen Orten gestoßen ist. Der Romanverlauf erweist sich schon nach wenigen Seiten als recht konstruiert und orientiert sich - typisch für den galanten Roman des späten 17. Jahrhunderts - an einem fast opernhaften Handlungsmuster. Diesem Konstruktionsprinzip kann man nur gerecht werden, wenn man bedenkt, dass es den Romanen dieser Zeit üblicherweise zukam, Funktionen zu übernehmen, die heute Boulevardzeitungen und illustrierten Zeitschriften überlassen werden.

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C) Europabegriff und -vorstellung bei Happel

Allein die Betrachtung von Titelblatt, Titelkupfer und Vorrede beweist, dass der Begriff "Europa" bzw. die Vorstellung dessen, was "europäisch" ist, einen wichtigen Stellenwert in Happels Roman einnimmt. Der Begriff "Europa" wird in Titel und Vorrede bereits optisch durch den Druck in großen, gesperrten Lettern hervorgehoben. Auch die unmittelbare Motivation des Autors, sich mit dieser Thematik 1689 erneut bzw. intensiver zu befassen, wird aus den vorangestellten vier Textseiten ersichtlich, denn die erweiterte, zweite Auflage seines Romans steht deutlich unter dem Eindruck der Türkenkriege. Diese hatten 1683 mit der Belagerung Wiens wieder eingesetzt und fanden 1688 mit der überraschenden Eroberung Belgrads einen in der christlichen Welt weithin umjubelten, vorläufigen Schlusspunkt, welcher Anlass zu euphorischen Hoffnungen gab. Das Titelkupfer verweist auf diesen Umstand, denn es zeigt den demutsvollen Kniefall des soldatisch gekleideten Titelhelden vor einem im Himmel schwebenden Kreuz, das von dem Schriftzug "IN HOC SIGNO VINCES" eingeschlossen wird.
Toroans Reiseroute beginnt an den Küsten der Adria ("Ragusa") und führt ihn - in der Reihenfolge der Nennung - nach Wien, Polen, Litauen ("Littau"), Kurland, Moskau, Stockholm, Kopenhagen ("Coppenhagen"), Hamburg, Westfalen, Holland, Calais, Paris, Kurpfalz ("Pfaltz-Simern"), Straßburg, Venedig, Rom, Neapel ("Neapolis"), Barcelona und schließlich wieder zurück ins Heilige Römische Reich, dessen "vornehmsten darin befindliche fürstl[iche] Geschlechter" beschrieben werden. Seine zahlreichen Gefährten, Begleiter, Diener, Gastgeber und Zufallsbekanntschaften erweitern seine Kenntnisse durch Beschreibungen von Orten, die abseits seines eigenen Weges liegen. Auf diese Weise erfährt die Romanfigur zusätzliche Details über die Landeskunde, Geographie und Geschichte Polens, Russlands/der Krim, Ungarns/Siebenbürgens, Böhmens, Schwedens, Dänemarks, Hollands, Englands, Frankreichs, Spaniens, Portugals, Italiens, Deutschlands und der Schweiz. Erlebniserzählungen, die außerhalb des europäischen Erdteils angesiedelt sind, stammen in der Regel nicht von Toroan selbst, sondern werden ihm lediglich zugetragen. Sie thematisieren unter anderem China und Persien und zeichnen sich durch eine negative Schilderung bzw. durch Ablehnung ("grausame Tyranney deß Schachs zu Persien") aus. Auffälligerweise bilden sie auch einen klaren Gegensatz zu der positiven Aufnahme und Behandlung, die Toroan an allen europäischen Orten widerfährt.
Als eine Ausnahme erweist sich das Osmanische Reich, das der Romanheld durch mehrere Gefangennahmen und Verschleppungen selbst kennen gelernt hat. Dadurch ist er am Ende des zweiten Bandes in der Lage, das "Türckische Reich und dessen Regenten" selbst zu erläutern. Die exponierte Stellung seiner Beschreibung am Romanende, das alle Personen noch einmal zusammenführt, ist ein weiteres Kennzeichen für die Sonderrolle, die das Osmanische Reich in Happels Werk einnimmt. Diese Sonderrolle resultiert aus drei Gründen: erstens entstand es nicht wie die anderen europäischen Reiche durch Heirat oder Erbschaften, sondern kam "durch den Säbel zu solcher grossen Macht und Gewalt", zweitens liegt es nicht vollkommen auf europäischen Boden, sondern verbindet vielmehr die "3 grossen Haupt=Theilen der Welt/ nemlich Europa, Asia und Africa" und drittens herrscht innerhalb seiner Grenzen die Religion des Islam und nicht die des Christentums.
Der Aussagewert des "Erneuerten Europaeischen Toroans" liegt in der Anschaulichkeit der geographischen wie psychologischen Grenzen Europas, die der Roman, gerade durch seine tendenziell propagandistische Färbung aufzeigt. Die Beurteilung dessen, was als "europäisch" bzw. als "nicht-europäisch" gilt, ergibt sich aus vielen Beispielen wie die unterschiedliche Aufnahme der Reisenden, die gewährte Gastfreundschaft oder die jeweiligen Sitten und Gebräuche. Diese Beispiele ziehen sich wie ein roter Faden durch den gesamten Verlauf der Handlung. Die Motivation Happels, sich mit dem Begriff und der Thematik "Europa" auseinander zu setzen, steht zwar in einer engen Verbindung mit der - verkaufsfördernden - Aktualität des Kriegsgeschehens, doch glaubt man darüber hinaus bereits eine gewisse grundsätzliche Überzeugung herauslesen zu können, was zu "Europa" bzw. was nicht zu "Europa" gehört, welche auch ohne die Abgrenzung vom Fremden Bestand hat.

(rf)

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