Jean-Paul Comte de Cerdan [1681]

Europe A Slave, Unless England Break Her Chains:
Discovering the Grand Designs of the French-Popish Party in England for several Years past.
London, Printed for W. D. and are to be sold in London and Westminster. 1681.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Jean-Paul Comte de Cerdan (1681)", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/jean-paul-comte-de-cerdan-1681-1/

Schlagworte: England; Flugschrift; Holländischer Krieg; Ludwig XIV.; Propaganda; Religion; Universalmonarchie;

Fundort: BSB / Film R 361-58

A) KurzbiographieB) Beschreibung der Quelle C) Europabegriff und -vorstellung bei Cerdan

 

A) Kurzbiographie

[Der anonyme Verfasser läßt sich anhand des englischen Anonymenlexikons von Samuel Halkett auflösen. Biographische Daten zur Person von "Jean-Paul Comte de Cerdan" waren jedoch trotz intensiver Recherche in englischen und französischen Nachschlagewerken bisher nicht zu ermitteln. Neben der vorliegenden Quelle ist dem Verfasser lediglich eine weitere Schrift mit dem Titel "L'Empereur et l'empire trahis" zuzuordnen, die erstmalig 1681 anonym in Köln verlegt wurde und bald darauf auch in einer deutschen (Hamburg 1681) sowie englischen (London 1682) Übersetzung vorlag.]

 

Literatur:

  • Halkett, Samuel: Dictionary of anonymous and pseudonymous English literature, vol. 2, London 1926, S. 219.

zum Seitenanfang

 

B) Beschreibung der Quelle

Die vorliegende Quelle erscheint erstmals im Jahr ihrer Niederschrift (1677) in einer französischen sowie niederländischen Fassung ohne Angabe des jeweiligen Druckortes. Die englische Überarbeitung des Jahres 1681 wird ebenso wie ihre beiden Vorgänger anonym, ohne Nennung des Verlegers und lediglich mit dem Zusatz "Printed for W. D." publiziert. Interessant erscheint der Hinweis, daß die Schrift ausdrücklich zum Verkauf in London und Westminster, also dem Sitz des Hofes, der Regierung sowie des Parlaments von England, bestimmt sei, da der Verfasser/Cerdan auf diese Weise unmißverständlich zum Ausdruck bringt, wer die Adressaten sind, an die sich seine Überlegungen hauptsächlich richten. Der Text des seltenen Duodezbandes, der 1962 von einer amerikanischen Reproduktionsfirma (XMS, Ann Arbor, Michigan) auf Mikrofilm kopiert wurde, ist darüber hinaus fortlaufend verfaßt und enthält weder ein Vor- bzw. Nachwort, eine Widmung, eine Kapitelunterteilung noch Illustrationen jeglicher Art.
Die ursprüngliche Fassung des Testes entsteht in der Endphase des Holländischen Krieges (1672-1678) zwischen Frankreich und den Generalstaaten. Durch die Auseinandersetzung sieht der Autor/Cerdan nicht nur die Spanischen wie auch die Vereinigten Niederlande in ihrer Existenz bedroht, sondern letztendlich alle Mächte des Kontinents. Die Eroberung der niederländischen Provinzen bedeutet für ihn lediglich den ersten Schritt in der Konzeption Ludwigs XIV., alle benachbarten Staaten - das Römische Reich Deutscher Nation, Spanien, Italien, die Schweiz und schließlich England - zu unterwerfen oder sie sich zumindest gefügig zu machen. Bereits die Inbesitznahme der Spanischen Niederlande würde für Frankreich einen solchen Machtzuwachs bedeuten, daß sicherlich keine einzelne Nation mehr in der Lage sei, Ludwig XIV. von seinem Plan abzuhalten, der im Endeffekt auf die Etablierung einer Universalmonarchie abzielt. Es sei deshalb die Aufgabe und Pflicht Englands, sich sofort aus seiner jahrelangen lethargischen Haltung zu lösen und auf der Seite der Gegner Frankreichs einzugreifen. Sollte sich diese Forderung nicht durchsetzen, wären nicht nur fundamentale Interessen eines jeden frei geborenen Engländers ("Preservation of Law and Liberty ... [as] Birth-Right") in Gefahr, sondern letztendlich der Fortbestand des gesamten Kontinents, da der französische König bald in der Lage sein werde, zwei Drittel Europas unter sein Joch zu bringen.
Die Tatsache, daß das Werk vier Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch einmal in einer englischen Überarbeitung aufgelegt wurde, erklärt sich durch die weitgehend unveränderte politische Lage des Jahres 1681. Ebenso wie der Friede von Aachen (1668) besaß auch der Friede von Nimwegen, der 1678 den Krieg zwischen Frankreich und den Generalstaaten beendet hatte, den Charakter einer vorläufigen Kompromißlösung, die den französischen Hegemoniebestrebungen keinen Einhalt gebieten konnte. Eine aktive militärische Rolle (Armee und Marine) Englands in den Reihen der antifranzösischen Koalition ist somit weiterhin notwendig, da sonst zu befürchten sei, "that the Seine now triumphs over the maritime Grandeur of England, and that France ... has found a means to lull asleep the English Sampson, that having cut off the locks of his hair, she may be able to make her self master of his Honour and his Puissance."
Der Autor/Cerdan geht bei seiner Prognose nicht von einer unmittelbaren Invasion Englands durch französische Marineeinheiten aus, sondern ist vielmehr zu der Überzeugung gelangt, daß der Sonnenkönig bereits seit Jahren versucht, englische Freiheiten durch diplomatische Einflußnahme und Intrigen zu untergraben. Mit der Hilfe des Papstes, der naturgemäß an einer Stärkung des Katholizismus und einer damit einhergehenden Schwächung tradierter Rechte und Privilegien der anglikanischen Kirche in England interessiert sei, habe sich im Laufe der Zeit eine starke französisch-päpstliche Partei in London und Westminster gebildet, so daß sich die Interessen der politischen Kräfte von denen der Nation getrennt hätten. Das Eingeständnis des Verfassers/Cerdan, selbst zwar von Geburt Engländer zu sein, aber dem römisch-katholischen Bekenntnis anzugehören, soll erklären, warum er eine klare Übersicht über die aktuellen Verhältnisse habe: "Now, as to the opportunity of being an English Man, and a Roman Catholick, gave me that Advantage to be admitted into several private Conferences held at Paris and London among those of my own Nation and Religion; and for that I had thereby the means to penetrate to the Bottom, and to discover the Malignity of the present Designs: It is the particular Knowledge of the present Misfortunes, which, together with my Conscience and my Honour, have caused me to put Pen to Paper."
Mehrmals betont er, daß sein Anliegen von jedem Engländer geteilt werden müsse, dem die Aufrechterhaltung von Gesetz und Freiheit etwas bedeute. Diese Aufforderungen werden durch die zunehmende propagandistische Einfärbung seines Textes begleitet. Bezeichnet der Autor/Cerdan beispielsweise den französischen König anfangs fast durchgehend als "His most Christian Majesty", so spricht er gegen Ende seiner Ausführungen von einem "French Tyrann", "Common Enemy of the Christian Faith" oder "French Poyson", den man zum Wohle Englands und damit Europas nicht unterschätzen dürfe.

zum Seitenanfang

 

C) Europabegriff und -vorstellung bei Cerdan

Die Ambitionen Ludwigs XIV., eine Universalmonarchie in Europa zu errichten, bildet das Zentrum der Überlegungen des Autors/Cerdans. Er geht davon aus, daß sich Frankreich nacheinander die Spanischen Niederlande, die Generalstaaten, das Römische Reich Deutscher Nation, Spanien, Italien, die Schweiz und England einverleiben oder zumindest in ein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis bringen möchte, während andere europäische Mächte wie Schweden, Polen oder Ungarn anhand von Subsidienzahlungen oder der guten diplomatischen Beziehungen Frankreichs zum Osmanischen Reich zur Neutralität oder einer unterstützenden Haltung gezwungen werden. Auf diese Weise sei Paris bald in der Lage, zwei Drittel Europas zu kontrollieren, was de facto einer Universalmonarchie gleich käme.
Zur Unterstützung seiner These bedient er sich eines historischen Vergleichs, um das kontinentale Ausmaß der ludovizianischen Bestrebungen zu verdeutlichen. Bereits im 16. Jahrhundert hätten sich mit Kaiser Karl V. und König Franz I. zwei Potentaten gegenübergestanden, die um die Vormachtstellung in Europa gekämpft und eine Universalmonarchie angestrebt hätten. Doch im Gegensatz zu diesem Konflikt stehe heute kein adäquater Gegner - weder im Reich noch in Spanien - zur Verfügung, der es mit der Person, den militärischen und finanziellen Mitteln Ludwigs XIV. aufnehmen könnte. Eine Diagnose aller französischen Gegner (insbesondere die Niederlande, Spanien sowie Kaiser und Reich) unterstützt seine Schilderung der prekären Lage auf dem Kontinent.
Eine besondere Situation würde sich darüber hinaus einstellen, wenn es Frankreich gelingen sollte, wie am Ende des 15. Jahrhunderts in Italien einzufallen und sich dort festzusetzen. Der Kirchenstaat wäre dann gezwungen auf sämtliche Wünsche des französischen Königs einzugehen und ihn letztlich mit allen Ehren und Privilegien auszustatten wie einst Karl den Großen. Was eine solche Entwicklung für Europa bedeuten würde, wertet der Verfasser/ Cerdan als offensichtlich.
England, das sich viel zu lange lethargisch verhalten und aus den kontinentalen Kriegen heraus gehalten habe, müsse sich nun unverzüglich Frankreich entgegenstellen, um die Pläne Ludwigs XIV. noch zu vereiteln. Die Verknüpfung französischer Eroberungspläne mit einer möglichen Rekatholizierung Englands spielt in diesem Zusammenhang eine nicht unwesentliche Rolle und ergibt sich sowohl aus der historisch gewachsenen Angst im vorrevolutionären England ("Glorious Revolution" 1688/89) vor einem jederzeit vermuteten "popish plot", als auch der persönlichen Vita des Schriftstellers/Cerdans (römisch-katholischer Engländer).
Das Schicksal Europas wird folglich mehrmals mit der Entscheidung Englands gleichgesetzt, innere Hürden zu überwinden und durch ein militärisches Eingreifen die kontinentalen Machtverhältnisse wieder auszugleichen. Nur durch eine solche Aktion sei letztendlich Europa (und folglich auch England selbst) vor dem Zugriff Frankreichs zu retten. Das politische Axiom des "balance of power"-Gedankens, das die englische Europapolitik vom ausgehenden 17. bis in das 20. Jahrhundert bestimmen wird, nimmt bei den Überlegungen des Autors/Cerdan somit bereits deutliche Konturen an.
(rf)

zum Seitenanfang