Johann Albert Fabricius [1678]

Deß Apollinis Neuer Probier=Ofen/
wie die bisherige Europaeische Kriegs=Consilia auf der Waag der Gerechtigkeit und Klugheit bestehen moechten.
Aus dem Parnasso hervorgegeben Durch Trajanum Bocalini.
[s. l.] Gedruckt im Jahr Christi 1678.

Zitierweise: Rolf Felbinger: Quellenautopsie "Johann Albert Fabricius (1678)", in: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Web-Projekt, Wolfgang Schmale (Dir.). https://europaquellen.univie.ac.at/einzelansicht/news/johann-albert-fabricius-1678/

Schlagworte: Flugschrift; Frankreich; Holland; Holländischer Krieg; Körper; Krankheit; Universalmacht;

Fundort: BSB / Eur. 1015 r

A) Kurzbiographie   B) Beschreibung der Quelle   C) Europabegriff und -vorstellung bei Bocalini [Fabricius]

 

A) Kurzbiographie

[Das Pseudonym "Trajanum Bo[c]calini" {I} sowie seine latinisierte Abwandlung "Trajanus Boccalinus" {II} wurden in den siebziger und achtziger Jahren mindestens fünfmal (1678 {I} sowie 1675, 1679, 1680, 1689 {II}) verwendet. Das deutsche Pseudonymenlexikon von Michael Holzmann und Hanns Bohatta ordnet Johann Albert Fabricius den Decknamen zu. Die Lebensdaten des promovierten Leipziger Theologen (1668 Leipzig - 1736 Hamburg) lassen diese Auflösung jedoch fragwürdig erscheinen. Bei der von Paul Hohenemser angefertigten Aufstellung der Flugschriftensammlung "Gustav Freytag" kann allerdings eine vergleichbare Schrift aus dem Jahr 1674 nachgewiesen werden, die ebenfalls mit Johann Albert Fabricius in Verbindung gebracht wird.]

 

Literatur:

  • Deutsches Biographisches Archiv, Alte Folge, Mikrofiches-Edition, MF 303.
  • Holzmann, Michael/Bohatta, Hanns: Deutsches Pseudonymen-Lexikon. Wien/Leipzig 1906.
  • Hohenemser, Paul: Flugschriftensammlung Gustav Freytag. Frankfurt/Main 1925, Nr. 5937.

zum Seitenanfang

 

B) Beschreibung der Quelle

Bei der Quelle handelt es sich um eine Flugschrift, die 1678 ohne Angabe des Druckortes hergestellt wurde und aus einem Frontispiz, einem Titelkupfer, einer halbseitigen Vorrede sowie einem fortlaufenden Text besteht. Der vorangestellte Kupferstich zeigt den antiken Gott Apollo, der durch eine besondere Positionierung und eine Art Strahlenmonstranz hervorgehoben wird, auf der Spitze des Berges Parnaß. Umringt von seiner Musenschar und dem fliegenden Pferd Pegasus thront die Göttergestalt neben einem großen, brennenden Ofen, vor dem die Wappen verschiedener europäischer Monarchien, Fürstentümer oder Republiken wie frisches Backwerk ausliegen. Während die Wappen von Apollo selbst mit ruhiger Miene betrachtet werden, scheint unter den restlichen mythischen Gestalten eine rege Diskussion ausgebrochen zu sein. Das Frontispiz illustriert vor allem die einleitenden Passagen des Traktats, das nach den Anweisungen des Verfassers ("Vorrede") fortlaufend und in einem Stück gelesen werden soll, um die Zusammenhänge besser zu verstehen.
In der Endphase des Holländischen Krieges (1672-1678) herrscht auf dem Berg des Apollo Uneinigkeit über die Zustände in Europa. Die Berichte des Götterboten Merkur fallen derart unterschiedlich und verwirrend aus, daß sie nicht erklären können, warum Europa in einen so üblen Zustand geraten konnte. Die Götterversammlung auf dem Parnaß rekapituliert und diskutiert die Geschichte des Krieges noch einmal und erzählt sie in zweierlei Form nach. Auf einer ersten Ebene wird auf alle teilnehmenden Mächte verwiesen, wobei die Ursachen ihres Kriegseintritts ebenso geklärt werden sollen wie ihre diplomatischen und militärischen Taktiken und Ziele. Parallel zu dieser Ebene wird das Kriegsgeschehen in der Form eines Gleichnisses wiedergegeben. Der Krieg entspricht dabei einer Krankheit, die den Körper der - personifizierten - Dame Europa befallen hat und deren Verlauf durch unterschiedliche Infektionen bestimmt und von Symptomen wie Fieber, Schmerzen, Entzündungen, Schwellungen sowie einer permanenten Schwäche begleitet wird, ehe sie durch die entsprechende Medikamentengabe und Pflege besiegt werden kann.
Dieser "verwirrte Zustand" bewegt Apollo schließlich dazu, alle am Krieg beteiligten Mächte einer Probe zu unterziehen, indem er die einzelnen Parteien schildern läßt, welche Motive sie in die Auseinandersetzung getrieben und welche Interessen sie verfolgt haben. Nach der Reihenfolge ihres ersten Waffengangs schildern "Franckreich, Holland und die vereinigte[n] Provintzen, Engelland, der Kaiser und das Roemische Reich, Chur Coeln und Muenster, Chur=Brandenburg, Spanien, Braunschweig, Schweden, Daennemarck, Lothringen, Pfaltz Neuburg, Sachsen, Bamberg, Würtzburg sowie die übrigen Potentaten und Herrschafften" das Kriegsgeschehen aus ihrer jeweiligen Sicht. Während dieser Anhörung, die etwa drei Viertel des gesamten Textes umspannt, taucht die Körpermetapher nur noch vereinzelt auf. Erstaunlich ist dahingegen der große Detailreichtum (Reichssatzungen, Wahlkapitulation, Präliminarien von Nimwegen, Seperatverhandlungen) der Schilderungen, der auf fundierte und umfangreiche Kenntnisse des Autors schließen läßt.
In der abschließenden Bewertung kommt der als Richter fungierende Apollo zu dem Urteil, daß die Waage der Gerechtigkeit zwischen den beiden hauptsächlichen Kontrahenten Frankreich und Holland ausgeglichen sei. Die Kriegsmotivation beider Länder besteht in ihrem intensiven Wunsch nach einer universalen Machtstellung und kann gleichermaßen als verständlich bzw. verwerflich betrachtet werden. Während Frankreich nach einer "Universal-Monarchie" und der militärischen Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent bzw. in der Welt strebe, seien die Holländer an einem "Universal-Monopolium" [Handelsmonopol] interessiert, der alle wirtschaftliche Macht in ihre Hände legen würde. "Nachdem aber das menschliche Geschlecht in dieser Zeitlichkeit von der [ursprünglichen/paradiesischen; Anm. d. Verf.] Universalität abgefallen [ist]/ ... und sich ... in unterschiedliche Voelcker ausgetheilet/ deren jedes seine eigene Land/ Leute/ und Gerechtsame hat", sei eine solche Absicht nicht mehr realisierbar, da derjenige, der "die groeste Macht hat/ ... auch die groesseste Resistenz wider sich ziehet." Alle anderen beteiligten Potentaten hätten lediglich in Verknüpfung mit französischen oder holländischen Interessen agiert und spielen deshalb im Urteil des Gottes nur eine untergeordnete Rolle.

zum Seitenanfang

 

C) Europabegriff und -vorstellung bei Bocalini [Fabricius]

Der Autor der Flugschrift bedient sich bei der Beschreibung Europas zweierlei Formen, die miteinander korrespondieren. Zunächst erfolgt die Darstellung Europas anhand des Bildes des weiblichen Körpers, der sich wegen des aktuellen Krieges in einem schlimmen Zustand befindet. Die Krankheit, mit der sich der Leib Europas infiziert hat, nennt der Verfasser die hartnäckige Seuche "Franzosen", welche eine Vielzahl von Behandlungsmethoden wie "Purgantia, Laxativen/ Schweißbad/ Aderlaeß/ Scarficationes, Blasenziehen/ cauterisationes und expellentia" nach sich zieht, um sie "aus den inficierten Gliedern auszutreiben".
Das erste Glied des Körpers, das von dieser Seuche betroffen war, stellt sich als "Donna Hollandia" heraus, die schon so lange mit ihr zu kämpfen hatte, daß sich niemand (in Apollos Runde) über deren finale Ausbreitung wundern kann. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, daß die "Republik der Vereinigten Niederlande" nicht nur als Glied - und somit als unselbständiger Teil der übergeordneten Einheit "Europas Körper" - erscheint, sondern wiederum selbst eine eigene, selbständige Körpereinheit bildet. Die Ausbreitung der Infektion der "Donna Hollandia" läßt sich nachvollziehen, denn sie erfolgte schließlich durch deren Abwendung von Frankreich (als Glied und Seuche der Europa) sowie deren parallel verlaufende Hinwendung zu Spanien und dem Reich, die somit als benachbarte Glieder von der Seuche betroffen waren. Durch die innerphysischen Kontakte infizierten sich fast alle Körperteile Europas, so daß es zwangsläufig zu dem desolaten körperlichen Zustand der "Europa" kommen mußte.
Diese Schilderung baut offensichtlich auf der Tradition der politischen Körpermetaphorik auf, die für die Einheit und gottgefällige Ordnung des christlichen Europa stand und vor allem seit dem 16. Jahrhundert (siehe "Andrés de Laguna 1543"; Quellen/16. Jahrhundert) auch in dieser Symbolik verstanden wurde. Ein gesunder Körper Europas repräsentierte einen gesunden, also intakten politischen Zustand, wobei die einzelnen Körperteile in ihrer Summe als Bild für die "Christiana Republica" fungierten. Jedes Glied war in diesem Zusammenhang für sich sowie gleichzeitig durch seine Aufgabe im ganzen bestimmbar. Dahingegen versinnbildlichte der kranke, infizierte Körper der "Europa", daß die einzelnen Glieder ihre Aufgaben nicht mehr in Abstimmung mit der vollständigen körperlichen Einheit erfüllen konnten. Ihr schlimmer körperlicher Zustand war folglich als das Resultat innerer Mißstände wie Kämpfe und Unordnung zu sehen, die sich anhand der Flugschrift klar als Machtgier und Kriegslüsternheit generell aller Beteiligten bzw. insbesondere "Frankreichs" (Glied/Seuche) und "Hollands" (Glied/Infektionsherd) identifizieren lassen.

zum Seitenanfang